Der Weg des konstruktiven Sozialismus
Demokratisierung als Sozialisierung
Da hatten die Anarcho-Gewerkschafter also die Probleme umgangen,
die den Marxismus auffahren ließen. Dafür scheiterten sie aber
an einem anderen Problem: dem der Ordnungssicherheit.
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Immerhin bringen Versuche der Umwälzung stets eine
Verunsicherung mit sich, die Kräfte zur Wiederherstellung der
Ordnung aktiviert. Und in diesem Konflikt – bis hin zum
Bürgerkrieg – erwiesen sich die relativ horizontalen Strukturen
des Anarchismus als untauglich.
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Die
Marxisten mit ihren autoritären Organisationen waren hier
realistischer – wenngleich insgesamt auf dem Holzweg. Durch die
Erfahrungen mit sowohl der Russischen Revolution als auch
eigenen Aufständen entspann sich denn auch im Syndikalismus der
1920er und 1930er eine Debatte um dieses Problem.
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So warnt etwa das
Manifest der Dreißig
Manifest der Dreißig
Etwas, das auf tragische Weise Recht hatte
vor einer Art backlash:
Ein zu schnelles Voranschreiten der Revolutionäre (hier konkret:
in Spanien) dürfte zu Reaktionen führen, die den Fortschritt
zurückwerfen.
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Zuvor schon hatten Theoretiker
wie
Rudolf Rocker
Rudolf Rocker
Jemand, der früh den Kultus der Revolution gelehrt bekam
in der Arbeiterbewegung eine gefährliche Revolutionsmythologie
ausgemacht;
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die wiederum
Alexander Schapiro
Alexander Schapiro
Jemand, dem die anarchistischen Kinderschuhe stanken
durch eine reflexive Praxistheorie ersetzt sehen
wollte.
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Die herrschende Ordnung, sie müsse
zwar überwunden werden, doch sei eine solche Transformation nur
annährungsweise zu denken: Unter Berücksichtigung des real
Machbaren, das in der Interaktion mit politischen Gegnern und
den eigenen Unzulänglichkeiten seine Grenzen findet.
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»Chaos und Gewalt mögen von Revolutionären zwar nicht gewünscht sein; die Destruktion einer komplexen Ordnung birgt aber immer auch Dynamiken, deren Folgen kaum berechenbar sind. Und damit nicht zu verantworten.«
Damit leiteten die Syndikalisten – von
Max Weber
Max Weber
Jemand, der harte Bretter langsam bohrte
gerade noch der Gesinnungsethik verdächtigt – eine
verantwortungsethische Wende ein.
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Indem sie
die »unbeabsichtigten Nebenfolgen« des eigenen Handelns
anerkannten,
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erkannten sie indirekt auch
einen validen Punkt konservativer Revolutionskritik an: Chaos
und Gewalt mögen von Revolutionären zwar nicht gewünscht sein;
die Destruktion einer komplexen Ordnung birgt aber immer auch
Dynamiken, deren Folgen kaum berechenbar sind.
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Und damit nicht zu verantworten. Tatsächlich ist die empirische
Bilanz gerade von horizontalen Aufständen verheerend. Nicht erst
mit dem Arabischen Frühling führten sie regelmäßig zu
Bürgerkrieg und Diktatur.
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Auch im Zeitalter
der Revolutionen konnten freiheitliche Kräfte selten der
Reaktion standhalten oder ließen sich von autoritären
Mitspielern die Butter vom Brot nehmen.
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Es
ist nämlich das eine, die »konstituierte Macht« zu
destituieren – und etwas
anderes, eine Alternative zu
instituieren; immerhin
müssten diese ja die sozialen Beziehungen »im großen Stil«
reorganisieren.
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Aber gerade anti-autoritäre
Kräfte befinden sich in der Sequenz des Ordnungsbruchs noch in
der Selbstfindung.
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Hier schlägt das
revolutionäre Pendel gemeinhin zurück.
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Denn
bei aller Prekarität der alten Institutionen: Reaktionäre Kräfte
oder autoritäre Systemalternativen können sich ihrer noch immer
bedienen, um freiheitliche Kräfte zurückzuwerfen.
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Um also den backlash zu
umgehen, legte man den Fokus nun stärker auf den Aufbau von
eigenen Institutionen, die das Utopische bereits in der
Gegenwart entfalten sollten. Diese Debatte – in Deutschland
unter dem Schlagwort des »konstruktiven Sozialismus« geführt
–
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endete jäh mit dem Faschismus.
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Aber sie wäre wohl auch so im Sande verlaufen. Denn nun
verzichtete man zwar auf die destruktive Operation, den
bürgerlichen Staat abschaffen zu wollen. Indem man sich aber
seiner Institutionen weiter verwehrte,
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liefen die Ideen auf eine Nischenwirtschaft hinaus, wie sie
später in der Alternativökonomie und
Freiraum-Bewegung
Freiraum
Ein Begriff, der die sozialen Tatsachen verdreht
praktiziert wurde. Gerade diese Verlegenheitslösung, die
revolutionär sein will, ohne Revolution zu machen, zeigt, wie
sich das Vergessen des Republikanismus auf die sozialistische
Vorstellungskraft ausgewirkt hat. Man suchte nicht etwa nach
bestehenden Vermittlungsformen, die sich verknüpfen lassen, um
einen institutionellen Funktionswandel zu ermöglichen. Nein, man
fokussierte auf die Schaffung eigener Vermittlungsformen, die
mit der herrschenden Ordnung möglichst wenig in Berührung
kommen. Für einen wirklichen konstruktiven Sozialismus brachte
der Spätsyndikalismus daher gar nicht die ideellen Anlagen mit.
Er sah den Dienst des Republikanismus bereits mit der Einführung
der allgemeinen Demokratie getan – und verkannte damit das
sozialistische Potential einer Bürgerschaft, deren
Selbstverwaltung sich über das gesamte Gemeinwesen
erstreckt.
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»Das Prinzip der Republik auch auf die Wirtschaft anzuwenden, wie es Teile der frühen Arbeiterbewegung forderten, bedeutet eben, die bürgerliche Republik als erste Teilverwirklichung einer sozialistischen Ordnung zu begreifen.«
Dabei hatte sich einst schon in der Schnittmenge von
Republikanismus und Sozialismus ein neues Demokratieverständnis
abgezeichnet. Ein Verständnis, das dem Sozialismus gleich
mehrere Möglichkeiten bietet, sich zu vermitteln. Das Prinzip
der Republik auch auf
die Wirtschaft anzuwenden, wie es Teile der frühen
Arbeiterbewegung forderten,
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bedeutet eben,
die bürgerliche Republik als erste Teilverwirklichung einer
sozialistischen Ordnung zu begreifen.
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Tatsächlich hatten sozialistische Republikaner einst gegen die
noch frische Behauptung protestiert, dass die Republik bloß die
Staatsform der Bourgeoisie sein solle. Eine »beliebte Phrase von
Marx« sei das, bemerkte etwa 1854
Eduard Wiß,
Eduard Wiß
Jemand, der ein paar blödsinnige Artikel gegen Marx schrieb
der in der Republik eine wichtige Rechtssicherheit sah: die
»Garantie allgemeiner freier Volksentwicklung«.
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Erst wenn diese stark genug sei, könne die Republik zum
Sozialismus neigen.
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Die politische
Demokratie als eine notwendige Bedingung für das Werden des
Sozialismus zu benennen – das war in dieser Zeit jedoch nicht so
naheliegend.
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Der Sozialismus durchlief
seine Formierungsphase eben noch in einer Ära des autoritären
Zentralstaats. Wo die Demokratie selbst noch am Keimen war,
konnten die Potentiale einer sozialen Transformation durch die
bürgerlichen Vermittlungsformen gar nicht ausgelotet werden. Die
republikanischen Ordnungsvorstellungen gerieten so zunächst in
Vergessenheit und kamen erst spät – wenn auch durch die Blume –
zurück in die Diskussion.
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Zurück zum Republikanismus – ein solcher Wind lag vor allem in
der Luft, weil er für das erfahrene Problem der
Ordnungssicherheit Abhilfe versprach: jenes Problem, das auch in
der Revolutionskritik des Reformsozialismus als zentrales Motiv
aufscheint.
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Und so sollte es nicht
verwundern, dass kein geringerer als
Eduard Bernstein
Eduard Bernstein
Jemand, dem ein falscher Ruf vorauseilt
um die Jahrhundertwende die Losung »zurück auf Lange«
ausgab.
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Also Friedrich Albert Lange. Der
übertrug 1865 die Idee des Konstitutionalismus in das
Ökonomische.
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Womit er einer Idee von
Pierre-Joseph Proudhon
Pierre-Joseph Proudhon
Jemand, der die Französische Revolution vollenden wollte
folgte, der sich etwa Fabriken als »kleine Republiken der
Arbeiter« ausmalte.
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Lange verfeinerte diese
Idee dahingehend, dass einer republikanisch organisierten
Wirtschaft eine Lernstufe vorangehen müsse, die er als eine der
»konstitutionellen Fabrik« bezeichnete.
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Wie
auch im Politischen der Übergang von vielen Monarchien zur
Demokratie durch zunehmende Verfassungselemente vollzogen wurde,
ließe sich ja auch das Soziale konstitutionalisieren, das
weitestgehend feudal funktioniert.
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Darauf
bezog sich jedenfalls Bernstein, als er dem sozialdemokratischen
Vakuum an Transformationskonzepten etwas entgegensetzte, das man
durchaus als Programm des konstruktiven Sozialismus einordnen
kann:
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die Vorstellung, dass Gewerkschaften
und Genossenschaften als Vollzugsorgane der Demokratie fungieren
– und als solche einer Demokratisierung der Wirtschaft den Weg
ebnen könnten.
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Die Sozialdemokratie missverstand aber Bernsteins
Ideen.
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Erst nach dem Ersten Weltkrieg
setzte bei ihr ein Umdenken ein. Denn die Novemberrevolution,
sie hatte nicht den Kapitalismus abgeschafft, sondern eine
Republik geschaffen. In der folgenden Debatte über
Sozialisierung machte sich nun bemerkbar, dass man es lange
verschmäht hatte, sich über positive Formeln des sozialistischen
Aufbaus Gedanken zu machen. Schon der Begriff der Sozialisierung
war neu, bezeichnete er doch das Ringen um die
Wirtschaftsordnung
innerhalb einer
Republik.
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Dabei dämmerte es nun einigen,
dass dies nicht nur die Abschaffung von Privateigentum meinen
muss, sondern auch als Ausweitung der Mitsprache in den
Sozialbeziehungen verstanden werden kann. Wenn etwa das
Produzenteninteresse, das ein anderes ist als das allgemeine
Interesse, direkten Einfluss auf die Spielregeln des
Produzierens hätte, dann wäre im Bereich der Arbeit eine soziale
Kontrolle gegeben, die die Untertanen der Wirtschaft zu ihren
Bürgern macht. Mehr noch: Es kann »in einem guten Fabrikgesetz«,
wie es Bernstein nannte, sogar »mehr Sozialismus stecken als in
einer Verstaatlichung von etlichen hundert
Unternehmungen«.
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Und tatsächlich muss man
unter dem Strich
Noam Chomsky
Noam Chomsky
Jemand, der sich nichts vom Pferd erzählen lässt
ja darin zustimmen, dass die liberalen Sozialstaaten mit ihren
Arbeiterrechten – einschließlich kollektiver Mitsprache und
Repräsentation – letztlich mehr sozialistischen Gehalt aufweisen
als manche »sozialistischen« Systeme.
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