Das Elend der Identitätspolitik
Kulturelle Barrieren der Demokratisierung
Wir finden in den unteren Klassen also den sozialen Träger einer
Konstitutionalisierung des Sozialen – und in multiplen
Gewerkschaften und Genossenschaften eine adäquate
Organisationsform. Wer aber wäre der politische Schrittmacher
solcher Prozesse? Insofern es hier um eine Perspektive geht, die
in der sozialistischen Tradition steht, richtet sich zwar der
Blick automatisch auf die Linke. Doch kann von diesem
Konglomerat, so weit man es auch fassen möchte, nicht gerade
behauptet werden, dass sein Verhältnis zu den unteren Klassen
intakt sei.
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Die Gründe für diese Beziehungskrise mögen
vielfältig sein,
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sie ist aber unzweifelhaft Ausdruck einer
epistemischen Krise
Epistemische Krise
Ein Zustand, in dem Akteure ihre politische Krise nur schlimmer machen
der Linken selbst.
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Denn offenbar ist in der Wissensordnung, die
den linken Diskurs anleitet, ein bestimmter Blickwinkel dominant
geworden, der die Effekte des eigenen (diskursiven) Handelns
nicht mehr zu reflektieren vermag.
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Einem Gros der Linken gilt
nämlich die Durchsetzung progressiv gemeinter Konzepte im
öffentlichen Diskurs als Synonym für Fortschritt. Dass auch die
besten Absichten unbeabsichtigte Effekte zeitigen können, die
regressive Entwicklungen begünstigen, ja dass sie sogar selbst
ins Reaktionäre kippen können, scheint in diesem Denken kaum
mehr vorzukommen.
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Es ist eine gesinnungsethische Denkweise, die
effektiv ausblendet, wie die eigenen Praktiken nicht nur
polarisieren,
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sondern sich sogar selbst zu Herrschaftstechniken
eines privilegierten Milieus entwickeln.
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Dabei sollte die Linke von ihrer eigenen Geschichte gewarnt
sein. Da gab es Arbeiterorganisationen, von Arbeitern, für
Arbeiter. Auch sie reklamierten Fortschritt und Gerechtigkeit
für sich: Menschen sollten nicht mehr ausgebeutet, ein sozial
gerechtes System geschaffen werden. Was konnte da schon schief
gehen? Am Ende: alles. Nicht selten endeten diese Bemühungen in
Reaktion und Bürgerkrieg oder brachten autoritäre Regime hervor,
in denen es sich schlechter lebte als in liberalen Ordnungen.
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Dabei stützten sich jene Regime auf Rechtfertigungsmuster, die
sich in einer Phase etabliert hatten, als die Arbeiterbewegung
relativ harmlos wirkte.
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Vor allem marxistische Kräfte
praktizierten schon früh eine Gleichsetzung ihrer Lesart des
Sozialismus mit den Interessen der Arbeiter, inklusive einer
eigenen Sprache, an der man Freund und Feind unterschied.
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Andere
Sozialismen hatten es in diesem enggeführten Diskurs zunehmend
schwer, wurden sie doch als bürgerlich, also reaktionär
abgewertet.
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Ähnliches wiederholte sich, als die Neue Linke den
Antikolonialismus
Antikolonialismus
Eine Bewegung, die nach Solidarität mit Despoten verlangt
auf den nationalen Befreiungskampf engführte und Linke als
kolonialistisch diffamierte, die den nationalistischen und
autoritären Formen des Antikolonialismus kritisch
gegenüberstanden.
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Sie machte sich so zum Handlanger von
nationalen Befreiungsbewegungen, die häufig despotische
Ordnungen errichteten –
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und nicht selten gegen wirklich
fortschrittliche Landsleute vorgingen.
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»Anders als es der linke Reflex unterstellt, gilt das Unbehagen mit der linken Identitätspolitik häufig ja nicht Feminismus und Antirassismus an sich. Vielmehr rumort es wegen einer politischen Kultur, die Wahrheiten immer mehr an Identitäten statt an Argumenten festmacht.«
Wenn also Linke wieder mal Fortschritt und Gerechtigkeit
gepachtet haben wollen, wenn sie eine historische
Folgerichtigkeit ihrer Konzepte behaupten und eine
technokratische Sprache zum Gesinnungstest machen, dann ist
Vorsicht geboten.
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Wenn sie dann auch noch ihre Lesart von etwa
Feminismus oder Antirassismus – also die
identitätspolitische Lesart
Identitätspolitik
Ein Begriff, der von der Linken zur Karikatur gemacht wurde
– mit den Interessen von Frauen und Migranten gleichsetzen, wenn
sie Kritiken an Identitätspolitik nur noch als frauenfeindlich
oder rassistisch lesen können, dann sollten die Alarmglocken
läuten.
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Und sie sollten es umso mehr, als der epistemische
Modus, für den Identitätspolitik eigentlich steht, immer
dominanter wird im linken Diskurs.
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Denn es ist eine alternative
Epistemologie, die anti-aufklärerisch wirkt. Anders als es der
linke Reflex unterstellt, gilt das Unbehagen mit der linken
Identitätspolitik häufig ja nicht Feminismus und Antirassismus
an sich.
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Vielmehr rumort es wegen einer politischen Kultur, die
Wahrheiten immer mehr an Identitäten statt an Argumenten
festmacht.
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Die Linke bewegt sich so in den Bereich eines
Irrationalismus, der mit den Prinzipien der Aufklärung über
Kreuz liegt. Wahrheit mag zwar subjektiv anders empfunden
werden, die Methoden ihrer Findung sollten aber universellen
Kriterien folgen.
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Denn wo man »die Person des Denkers und nicht
seine Gedanken in Betracht zieht«, wie
Karl Popper,
Karl Popper
Jemand, der den Quargel vom intellektuellen Standort entlarvte
ein weißer Mann, sagt, wird Wahrheit eben eine Frage des Affekts
– und damit selbst relativ.
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Tatsächlich zeichnet sich der linke Diskurs zunehmend durch
ad-hominem-Argumente aus. Denn Positionen, die sich einer
»falschen« Identität zuordnen lassen oder diese auch nur
vermeintlich reproduzieren, disqualifizieren sich hier schnell.
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Wo einst das Verdikt des Bürgerlichen genügte, um eine
Diskussion und damit auch Reflexion zu vermeiden, haben Linke
von heute gleich mehrere Konstrukte zur Hand, um Kritiken als
falschen Standpunkt abzuwehren – angefangen bei Männlichkeit
oder Weißsein.
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Die Folge dieser neuen Rechtfertigungsfaulheit
ist ein Diskurs ohne argumentative Konsistenz.
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So werden Männer
ausdrücklich ermuntert, sich die Identität von Frauen und ihre
Räume anzueignen
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(auch gegen
feministische Kritik),
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Kritischer Feminismus
Eine Haltung, gegen die FARTs zur Hexenjagd blasen
während die Aneignung ethnischer Identitäten als Skandal gilt,
wie der Fall
Rachel Dolezal
Rachel Dolezal
Jemand, der den Hass transfeindlicher Linker zu spüren bekommt
zeigt.
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Fragwürdig ist das nicht nur, weil hier oberflächliche
Erscheinungsmerkmale wie die Hautfarbe zu einer natürlichen
Barriere zwischen den Menschen hochgejazzt werden,
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während
durchaus natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern
geleugnet werden.
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Man muss sich indessen auch fragen, ob die
Linke hier nicht selbst eine Art Co-Rassismus etabliert.
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Das
Konzept der kulturellen Aneignung etwa verhält sich semantisch
völlig synchron zum Ethnopluralismus der extremen Rechten: Die
einen wollen ihre imaginierte Gemeinschaft nicht verunreinigt
sehen, die anderen wollen aus anderen Gemeinschaften nichts
entnommen sehen.
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»Die Linke treibt eine Vergeschlechtlichung der Sprache ohne Rücksicht auf entstehende Pfadabhängigkeiten voran. Dass sie damit eine wirklich geschlechtsneutrale Sprache präfigurativ verhindert, prallt an ihr ebenso ab wie die Tatsache, dass sie damit die meisten Menschen auf Distanz zu sich bringt.«
Ob dieser Verdrehungen und Widersprüchlichkeiten sollte es nicht
verwundern, dass die Linke vielen als Quelle des Bullshits gilt
und – ja – als spaltende Kraft.
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Ihre Identitätspolitik mag zwar
nominell gegen sexistische und rassistische Spaltungen gerichtet
sein. Ihr eigentlich sinnstiftendes Moment ist aber die ständige
Abgrenzung und Emotionalisierung von diskursiven Konzepten, die
ihr als Ausdruck eines falschen Bewusstseins gelten.
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Auf einer
metapolitischen Ebene spaltet man so die Gesellschaft »in
diejenigen, die die unübersetzbare Sprache unserer eigenen
Gefühle und Leidenschaften sprechen, und die übrigen, deren
Sprache nicht die unsere ist.«
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Es ist diese Babylonisierung, mit
der sich die Linke den Weg in die Zukunft verstellt.
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Und nichts
ist für diese Sackgasse symptomatischer als die linke
Sprachpolitik,
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die sich zunehmend zu einem Spaltpilz entwickelt.
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Besessen vom Mythos des
generischen Maskulinums,
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Generisches Maskulinum
Ein Begriff, der sexistische Realitäten schafft
treibt die Linke eine Vergeschlechtlichung der Sprache ohne
Rücksicht auf entstehende Pfadabhängigkeiten voran.
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Dass sie
damit eine wirklich geschlechtsneutrale Sprache präfigurativ
verhindert,
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prallt an ihr ebenso ab wie die Tatsache, dass sie
damit die meisten Menschen auf Distanz zu sich bringt.
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Hier und
da mag sie zwar anerkennen, dass es für ihre Sprachpolitik keine
Mehrheiten gibt. Im Glauben, auf der Seite des Fortschritts zu
sein, hält sie es dennoch für opportun, den Prozess
voranzutreiben.
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Das rechte Gegrunze vom Kulturmarxismus, es
findet hier reales Futter.
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Dieser Tragweite ist sich die Linke nicht bewusst. Entgegen der
Mär, ihre Sprachpolitik sei etwa von Frauen gewünscht, trifft
sie selbst bei ihnen auf wenig Gegenliebe.
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Trunken von ihrem
Siegeszug in den Unis und Redaktionen, übersehen viele Linke,
dass ihre Akzeptanz weniger eine Frage des Geschlechts ist als
von sozialen und politischen Hintergründen.
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Vor allem ist es
nämlich ein Konflikt zwischen spezifischen bildungsbürgerlichen
Milieus und den einfachen Menschen.
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Und das bedeutet: Die Linke
übergeht hier die Massen – auch die subalternen.
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Dieser Umstand
bestätigt den Eindruck einer epistemisch kriselnden Linken, die
ihre Widersprüche nicht zu reflektieren vermag. Denn würde sie
die Standpunkttheorie konsistent, nicht willkürlich anwenden,
müsste sie sich selbst canceln.
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Da sie aber stark
bildungsbürgerlich zusammengesetzt ist, weist natürlich auch
ihre Perspektive blinde Flecken auf. Im Endeffekt reflektiert
ihre identitätspolitische Lesart von Feminismus und
Antirassismus, ja von
Intersektionalität
Intersektionalität
Ein Konzept, das auf ein kleingeistiges Kastensystem hinausläuft
schlechthin, gar ihren privilegierten Standpunkt.
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Die linke
Identitätspolitik, sie hat eine klassistische Funktion; die
Sprachpolitik dient dabei als soziolinguistischer Marker.
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Will
die Linke also amerikanische Zustände verhindern,
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müsste sie
auch im Kulturellen die Barrieren abtragen, die ihr den
Anschluss bei den unteren Klassen verbauen: Es wäre mit der
politischen Kultur der Identitätspolitik zu brechen.
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Denn
sozialer Wandel geht nur mit den Massen, nicht gegen sie.