Epistemischer Wandel
Das Problem der sozialen Zusammensetzung
            Die soziale Entrücktheit linker Politik wird im Diskurs der
            Linken kleingeredet. Das eigene (diskursive) Handeln
            rechtfertigt man dort, wo zumindest eine Ahnung über das Problem
            besteht, durch eine Art höhere Mission. Man weiß zwar mit der
            Identitätspolitik nicht wirklich die Gesellschaft hinter sich,
            spricht aber dennoch für sie. Im abstrakten Sinne: Indem man
            sich als Advokat subalterner Gruppen begreift, durch deren
            Gleichstellung wahre Menschlichkeit erst möglich würde.
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      Kritiker
            sprechen hier oft von einer Moralisierung der Politik.
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            Treffender scheint uns jedoch die Feststellung, dass wir vor
            allem im Bildungsbürgertum eine Verschiebung der Normen erleben,
            mit der sich auch das Gesicht der Linken verändert.
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      Immerhin
            haben in den vergangenen Jahren
            
                identitätspolitische Konzepte,
               Identitätspolitik 
 Ein Begriff, der von der Linken zur Karikatur gemacht wurde
            die zunächst in der linken Szene aufkamen, eine erstaunliche
            Karriere in genau solchen Milieus gemacht, die schon immer ihre
            Mitmenschen besonders über Moral belehrten – und sich dabei
            durch sprachliche Etikette vom Pöbel abgrenzten.
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      Es ist
            auffällig, dass die
            
                Neueste Linke
               Neueste Linke 
 Eine Bewegung, die zu viel Pseudo geschluckt hat
            vorwiegend mit jungen urbanen Menschen assoziiert wird, die
            einen bildungsnahen Familienhintergrund haben.
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      Dieser Umstand
            spiegelt sich auch in der verbreiteten Annahme wider, die
            Akzeptanz für die linke Sprach- und Verhaltenspolitik sei eine
            Frage der (richtigen) Bildung – und könne daher im Namen der
            Zivilisation eingefordert werden.
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      Es geht um Einsicht in die
            Notwendigkeit, sozusagen.
        
»Identitätspolitische Konzepte haben eine erstaunliche Karriere in genau solchen Milieus gemacht, die schon immer ihre Mitmenschen besonders über Moral belehrten – und sich dabei durch sprachliche Etikette vom Pöbel abgrenzten.«
            Mit der Identitätspolitik, die – wie gesagt – mit Feminismus,
            Antirassismus usw. nicht in eins zu setzen ist, kann das
            Bildungsbürgertum sein Zivilisiertsein neu interpretieren.
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      Wobei
            sie sich gut eignet, um eigene Privilegien und Widersprüche
            auszublenden. Gerade ja für jüngere Menschen, die keine Fabrik,
            keinen Sozialbau von innen gesehen haben, sich aber zu
            politischer Mitwirkung berufen sehen. Für sie bietet die
            Identitätspolitik einen Baukasten, um sich ohne Lebenserfahrung
            oder eigene Denkleistungen Autorität zu verschaffen.
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      Oftmals
            szientistisch verargumentiert, wirken sie komplex und erhaben;
            in Wirklichkeit sind es vor allem semantische Winkelzüge, die
            sich relativ schnell erlernen und reproduzieren lassen. Es ist
            ein
            
                rigider Radikalismus,
               Rigider Radikalismus 
 Eine Haltung, die keine Grautöne mehr kennt
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            hinter dessen Menschlichkeit sich, wie
            
                Laura Jane Grace
               Laura Jane Grace 
 Jemand, der die Revolution als Lüge erkannte
            singt, »eine blutleere Ideologie«, ja sogar eine »Mobmentalität«
            verbirgt
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      – und der in Zeiten der Digitalisierung ganz neue
            Möglichkeiten der Entfaltung erhält.
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      Ganz dem Paradigma
            verfallen, dass das Persönliche politisch sei, findet die
            Neueste Linke in einem Set von Sprach- und Verhaltensnormen die
            gemeinschaftsbildenden Momente.
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      An ihrer (Nicht-)Anwendung
            erkennen sich Freund und Feind im Alltag; an ihnen reiben sich
            affektiv die kulturellen Schwärme.
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      Ob man damit die subalternen
            Interessen wirklich bedient, ist zweitrangig.
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      Wie schon im
            Antikolonialismus ist der
            claim entscheidend.
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      Dass
            es dabei vor allem Abkömmlinge eines privilegierten Bürgertums
            sind, die sich am lautesten auf weibliche und/oder migrantische
            Deklassierte berufen, ist dabei doppelt zynisch. In ihrer
            eigenen Logik müsste man es wohl soziale Aneignung nennen.
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            Denn linke Identitätspolitik wirkt paternalistisch auf die
            Massen, darunter das Gros von Frauen und Migranten.
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      Von der
            Linkspartei bis hinein in die CDU, von Anarcho-Gruppen bis zum
            Audi-Vorstand tut sich – auf metapolitischer Ebene – eine Wand
            auf, die auf viele einfache Menschen wie Binnenkolonialismus
            wirken muss.
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      Es ist ein kultureller Konflikt, in dem eine
            schematische Moralvorstellung auf Milieus trifft, in der Sprache
            und Verhalten ganz
            
                verschiedene Semantiken
               Semantische Differenz 
 Ein Problem, das Pfeffer in den Diskurs bringt
            aufweisen – auch weil die Befindlichkeiten durch die materiellen
            Bedingungen oftmals andere sind.
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      Solche kulturellen Diversitäten
            und Ambiguitäten will die Linke nicht mehr kennen. Seit den
            1960ern misst sie dem einzelnen Subjekt eine immer größere
            Bedeutung bei der Reproduktion von Herrschaft bei – mit der
            Politisierung individuellen Verhaltens als Folge.
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      Linke Praxis
            dreht sich daher viel um die Subjektivierung von
            Verhaltenskodizes: ein Totalitarismus von unten, der
            vordergründig haarspalterisch, tatsächlich aber grobschlächtig
            ist.
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      Geleitet durch die Tunnel eines selektiven Bildungssystems,
            das die Menschen früh in unterschiedliche Welten trennt,
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      geht
            nämlich vielen Linken nicht nur der Sinn für die Kultur anderer
            sozialer Milieus ab.
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      Sie sind ihnen sogar soweit entfremdet,
            dass sie nicht mal das Offensichtliche spüren: dass etwa eine
            Rhetorik, die Weiße und Männer, vor allem weiße Männer, ständig
            als Problem markiert,
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      zwangsläufig einen signifikanten Teil der
            Bevölkerung gegen sie aufbringt.
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            Für viele Malocher und Hausfrauen, die lebenslang knüppeln, muss
            es wie Hohn wirken, von jungen Professorentöchtern über ihre
            Privilegien und Fehler
            leftsplained zu werden.
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            Wo ein derart verqueres Mindset kultiviert wird, ist es nur ein
            Schritt, bis Migrantenkinder in den Schulen gedisst werden – im
            Namen der
            
                politischen Korrektheit.   Politische Korrektheit 
 Ein Begriff, der manchen als nicht politisch korrekt gilt
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            Auf viele Weise läuft die Linke so Gefahr, gegenteilige Effekte
            hervorzurufen. Was das mit einer Gesellschaft machen kann, sehen
            wir in den USA, der Hochburg linker Identitätspolitik. Zwar
            haben die rechten Erfolge in linken Zielgruppen durchaus einen
            Schock bewirkt, doch will die US-Linke auch angesichts des
            weiter drohenden Trumpismus ihr Playbook nicht ändern.
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      Obwohl
            ihr die extreme Rechte förmlich ins Gesicht schreit, dass sie
            von der linken Identitätspolitik enorm profitiert,
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      wollen viele
            Linke nicht wahrhaben, dass sie ihre Schlachten schlecht wählen.
            Ihre Praxen der Identitätspolitik sind nicht nur unpopulär; auch
            ihr Output, ja sogar ihr Gehalt sind fragwürdig.
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      Dass die
            US-Linke dennoch den Stiefel durchzieht, verweist auf
            Pfadabhängigkeiten: Man will das Problem mit derselben Logik
            lösen, die es geschaffen hat.
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      Diese affektive Schwarmlogik ist
            keine strategische, sondern eine gesinnungsethische. Um es mit
            Weber zu sagen: »Man mag einem [woken Linken] noch so
            überzeugend darlegen, dass die Folgen seines Tuns die Steigerung
            der Chancen der Reaktion ... sein werden – und es wird auf ihn
            gar keinen Eindruck machen.«
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 »Als hätte es sich Monty Python ausgedacht, müssen in feministischen und antirassistischen Gruppen gerade die ihre Kultur verleugnen, die von dort kommen, wo es etwa alleinerziehende Mütter und ethnische Diversität am meisten gibt.«
            Wir sehen die Folgen hierzulande schon. Etwa in der linken
            Szene, wo die Identitätspolitik ihren Lauf nahm.
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      Halbwegs
            darüber bewusst, dass man vor allem ein junges Bildungsbürgertum
            anzieht, reden Teile der Linken zwar über eine
               
                Neue Klassenpolitik,
               Neue Klassenpolitik 
 Ein Gewäsch, mit dem Linke sich selbst einseifen
            die Identitätspolitik soll das aber nicht berühren.
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      Feminismus,
            Antirassismus und Klassenpolitik seien kein Widerspruch, hört
            man etwa häufig. Als ob es darum ginge. Identitätspolitik ist ja
            kein Arbeitsfeld, sondern ein Modus. Als solcher ist er auf
            allen drei Feldern anwendbar, wird aber primär in den ersten
            beiden genutzt.
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      Die daraus entwickelten Praxen wirken dann auf
            alltagskultureller Ebene exkludierend. Denn da die abverlangten
            Verhaltensformen den bildungsbürgerlichen Habitus inkorporiert
            haben, aus dem sie erwachsen, haben einfache Menschen die
            größten Anpassungen zu leisten.
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      Die »Mikroaggressionen« etwa,
            die viele Linke makroaggressiv beseitigen wollen, sind ja vor
            allem »unten« anzutreffen. Als hätte es sich
            
                Monty Python
               Monty Python 
 Eine Satiretruppe, die von der Realität überholt wurde
            ausgedacht, müssen in feministischen und antirassistischen
            Gruppen gerade die ihre Kultur verleugnen, die von dort kommen,
            wo es etwa alleinerziehende Mütter und ethnische Diversität am
            meisten gibt.
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      Selbst in Gruppen, die viel von der Arbeiterklasse
            reden.
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      Letztlich folgt daraus eine Mikropolitik, die übergriffig
            und toxisch ist, weil sie die persönliche Autonomie angreift,
            ganze Persönlichkeitstypen an den Pranger stellt.
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      Wer meint, die
            Linke könne keine
            cancel culture,
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      der hat
            von ihrer
            call-out culture keine
            Notiz genommen.
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      Die Szene hält sich durch entsprechende
            Praktiken ziemlich homogen.
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            Im Prinzip führt sich damit auch die Intersektionalität ad
            absurdum. Welches Wissen als feministisch, antirassistisch oder
            auch klassenkämpferisch gilt, das ist durch die Normen von
            sozial privilegierten Gruppen angeleitet – und damit potentiell
            nach unten gerichtet.
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      Im Ergebnis sehen wir linke Gruppen, die
            nominell für die Arbeiterklasse da sind, sich der klassistischen
            Wirkung ihrer Mikropolitik aber nicht mal bewusst sind. Obwohl
            inklusiv gemeint, ist sie nicht nur kulturell inkompatibel mit
            den Massen, sondern auch materiell: Identitätspolitik ist
            zeitintensiv; man muss sie sich leisten können.
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      Dasselbe gilt
            auch für die Organisationsform. Hier wählen Linke von heute
            gerne Strukturen und Verfahren, die besonders ressourcenintensiv
            sind. Das passt ganz gut zu den Lebensrealitäten etwa von
            Studenten, aber sicher nicht zu denen, die beruflich und
            familiär stark eingebunden sind. Auch ehrenamtliche Arbeit und
            ständige Plena muss man sich leisten können.
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      Im Endeffekt wirkt
            das vor allem als
            
                struktureller Sexismus
               Struktureller Sexismus 
 Ein Problem, das durch antisexistische Praxen verstärkt wird
            gegen Frauen aus den unteren Klassen, die häufig viel weniger
            Zeit haben als Männer.
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      Auf verschiedene Weise reproduziert so
            die Linke eine juvenile, privilegierte Zusammensetzung – und
            damit eine Wissensordnung, in der dieses Problem selbst kein
            diskursives Gewicht erlangt.
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      Es beißt sich hier die Katze in den
            Schwanz: Denn für eine andere soziale Zusammensetzung bräuchte
            es einen epistemischen Wandel. Und dafür bräuchte es jene andere
            Zusammensetzung.
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