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VIII.

Epistemischer Wandel

Das Problem der sozialen Zusammensetzung
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Die soziale Entrücktheit linker Politik wird im Diskurs der Linken kleingeredet. Das eigene (diskursive) Handeln rechtfertigt man dort, wo zumindest eine Ahnung über das Problem besteht, durch eine Art höhere Mission. Man weiß zwar mit der Identitätspolitik nicht wirklich die Gesellschaft hinter sich, spricht aber dennoch für sie. Im abstrakten Sinne: Indem man sich als Advokat subalterner Gruppen begreift, durch deren Gleichstellung wahre Menschlichkeit erst möglich würde. 1 Kritiker sprechen hier oft von einer Moralisierung der Politik. 2 Treffender scheint uns jedoch die Feststellung, dass wir vor allem im Bildungsbürgertum eine Verschiebung der Normen erleben, mit der sich auch das Gesicht der Linken verändert. 3 Immerhin haben in den vergangenen Jahren identitätspolitische Konzepte, Identitätspolitik
Ein Begriff, der von der Linken zur Karikatur gemacht wurde
die zunächst in der linken Szene aufkamen, eine erstaunliche Karriere in genau solchen Milieus gemacht, die schon immer ihre Mitmenschen besonders über Moral belehrten – und sich dabei durch sprachliche Etikette vom Pöbel abgrenzten. 4 Es ist auffällig, dass die Neueste Linke Neueste Linke
Eine Bewegung, die zu viel Pseudo geschluckt hat
vorwiegend mit jungen urbanen Menschen assoziiert wird, die einen bildungsnahen Familienhintergrund haben. 5 Dieser Umstand spiegelt sich auch in der verbreiteten Annahme wider, die Akzeptanz für die linke Sprach- und Verhaltenspolitik sei eine Frage der (richtigen) Bildung – und könne daher im Namen der Zivilisation eingefordert werden. 6 Es geht um Einsicht in die Notwendigkeit, sozusagen.

»Identitätspolitische Konzepte haben eine erstaunliche Karriere in genau solchen Milieus gemacht, die schon immer ihre Mitmenschen besonders über Moral belehrten – und sich dabei durch sprachliche Etikette vom Pöbel abgrenzten.«

Mit der Identitätspolitik, die – wie gesagt – mit Feminismus, Anti-Rassismus usw. nicht in eins zu setzen ist, kann das Bildungsbürgertum sein Zivilisiertsein neu interpretieren. 7 Wobei sie sich gut eignet, um eigene Privilegien und Widersprüche auszublenden. Gerade ja für jüngere Menschen, die keine Fabrik, keinen Sozialbau von innen gesehen haben, sich aber zu politischer Mitwirkung berufen sehen. Für sie bietet die Identitätspolitik einen Baukasten, um sich ohne Lebenserfahrung oder eigene Denkleistungen Autorität zu verschaffen. 8 Oftmals szientistisch verargumentiert, wirken sie komplex und erhaben; in Wirklichkeit sind es vor allem semantische Winkelzüge, die sich relativ schnell erlernen und reproduzieren lassen. Es ist ein rigider Radikalismus, Rigider Radikalismus
Eine Haltung, die keine Grautöne mehr kennt
9 hinter dessen Menschlichkeit sich, wie Laura Jane Grace Laura Jane Grace
Jemand, der die Revolution als Lüge erkannte
singt, »eine blutleere Ideologie«, ja sogar eine »Mobmentalität« verbirgt – 10 und der in Zeiten der Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten der Entfaltung erhält. 11 Ganz dem Paradigma verfallen, dass das Persönliche politisch sei, findet die Neueste Linke in einem Set von Sprach- und Verhaltensnormen die gemeinschaftsbildenden Momente. 12 An ihrer (Nicht-)Anwendung erkennen sich Freund und Feind im Alltag; an ihnen reiben sich affektiv die kulturellen Schwärme. 13 Ob man damit die subalternen Interessen wirklich bedient, ist zweitrangig. 14 Wie schon im Anti-Kolonialismus ist der claim entscheidend. 15 Dass es dabei vor allem Abkömmlinge eines privilegierten Bürgertums sind, die sich am lautesten auf weibliche und/oder migrantische Deklassierte berufen, ist dabei doppelt zynisch. In ihrer eigenen Logik müsste man es wohl soziale Aneignung nennen. 16

Denn linke Identitätspolitik wirkt paternalistisch auf die Massen, darunter das Gros von Frauen und Migranten. 17 Von der Linkspartei bis hinein in die CDU, von Anarcho-Gruppen bis zum Audi-Vorstand tut sich – auf metapolitischer Ebene – eine Wand auf, die auf viele einfache Menschen wie Binnenkolonialismus wirken muss. 18 Es ist ein kultureller Konflikt, in dem eine schematische Moralvorstellung auf Milieus trifft, in der Sprache und Verhalten ganz verschiedene Semantiken Semantische Differenz
Ein Problem, das Pfeffer in den Diskurs bringt
aufweisen – auch weil die Befindlichkeiten durch die materiellen Bedingungen oftmals andere sind. 19 Solche kulturellen Diversitäten und Ambiguitäten will die Linke nicht mehr kennen. Seit den 1960ern misst sie dem einzelnen Subjekt eine immer größere Bedeutung bei der Reproduktion von Herrschaft bei – mit der Politisierung individuellen Verhaltens als Folge. 20 Linke Praxis dreht sich daher viel um die Subjektivierung von Verhaltenskodizes: ein Totalitarismus von unten, der vordergründig haarspalterisch, tatsächlich aber grobschlächtig ist. 21 Geleitet durch die Tunnel eines selektiven Bildungssystems, das die Menschen früh in unterschiedliche Welten trennt, 22 geht nämlich vielen Linken nicht nur der Sinn für die Kultur anderer sozialer Milieus ab. 23 Sie sind ihnen sogar soweit entfremdet, dass sie nicht mal das Offensichtliche spüren: dass etwa eine Rhetorik, die Weiße und Männer, vor allem weiße Männer, ständig als Problem markiert, 24 zwangsläufig einen signifikanten Teil der Bevölkerung gegen sie aufbringt. 25

Für viele Malocher und Hausfrauen, die lebenslang knüppeln, muss es wie Hohn wirken, von jungen Professorentöchtern über ihre Privilegien und Fehler leftsplained zu werden. 26 Wo ein derart verqueres Mindset kultiviert wird, ist es nur ein Schritt, bis Migrantenkinder in den Schulen gedisst werden – im Namen der politischen Korrektheit. Politische Korrektheit
Ein Begriff, der manchen als nicht politisch korrekt gilt
27 Auf viele Weise läuft die Linke so Gefahr, gegenteilige Effekte hervorzurufen. Was das mit einer Gesellschaft machen kann, sehen wir in den USA, der Hochburg linker Identitätspolitik. Zwar haben die rechten Erfolge in linken Zielgruppen durchaus einen Schock bewirkt, doch will die US-Linke auch angesichts des weiter drohenden Trumpismus ihr Playbook nicht ändern. 28 Obwohl ihr die extreme Rechte förmlich ins Gesicht schreit, dass sie von der linken Identitätspolitik enorm profitiert, 29 wollen viele Linke nicht wahrhaben, dass sie ihre Schlachten schlecht wählen. Ihre Praxen der Identitätspolitik sind nicht nur unpopulär; auch ihr Output, ja sogar ihr Gehalt sind fragwürdig. 30 Dass die US-Linke dennoch den Stiefel durchzieht, verweist auf Pfadabhängigkeiten: Man will das Problem mit derselben Logik lösen, die es geschaffen hat. 31 Diese affektive Schwarmlogik ist keine strategische, sondern eine gesinnungsethische. Um es mit Weber zu sagen: »Man mag einem [woken Linken] noch so überzeugend darlegen, dass die Folgen seines Tuns die Steigerung der Chancen der Reaktion ... sein werden – und es wird auf ihn gar keinen Eindruck machen.« 32

»Als hätte es sich Monty Python ausgedacht, müssen in feministischen und antirassistischen Gruppen gerade die ihre Kultur verleugnen, die von dort kommen, wo es etwa alleinerziehende Mütter und ethnische Diversität am meisten gibt.«

Wir sehen die Folgen hierzulande schon. Etwa in der linken Szene, wo die Identitätspolitik ihren Lauf nahm. 33 Halbwegs darüber bewusst, dass man vor allem ein junges Bildungsbürgertum anzieht, reden Teile der Linken zwar über eine Neue Klassenpolitik, Neue Klassenpolitik
Ein Gewäsch, mit dem Linke sich selbst einseifen
die Identitätspolitik soll das aber nicht berühren. 34 Feminismus, Anti-Rassismus und Klassenpolitik seien kein Widerspruch, hört man etwa häufig. Als ob es darum ginge. Identitätspolitik ist ja kein Arbeitsfeld, sondern ein Modus. Als solcher ist er auf allen drei Feldern anwendbar, wird aber primär in den ersten beiden genutzt. 35 Die daraus entwickelten Praxen wirken dann auf alltagskultureller Ebene exkludierend. Denn da die abverlangten Verhaltensformen den bildungsbürgerlichen Habitus inkorporiert haben, aus dem sie erwachsen, haben einfache Menschen die größten Anpassungen zu leisten. 36 Die »Mikroaggressionen« etwa, die viele Linke makroaggressiv beseitigen wollen, sind ja vor allem »unten« anzutreffen. Als hätte es sich Monty Python Monty Python
Eine Satiretruppe, die von der Realität überholt wurde
ausgedacht, müssen in feministischen und antirassistischen Gruppen gerade die ihre Kultur verleugnen, die von dort kommen, wo es etwa alleinerziehende Mütter und ethnische Diversität am meisten gibt. 37 Selbst in Gruppen, die viel von der Arbeiterklasse reden. 38 Letztlich folgt daraus eine Mikropolitik, die übergriffig und toxisch ist, weil sie die persönliche Autonomie angreift, ganze Persönlichkeitstypen an den Pranger stellt. 39 Wer meint, die Linke könne keine cancel culture, 40 der hat von ihrer call-out culture keine Notiz genommen. 41 Die Szene hält sich durch entsprechende Praktiken ziemlich homogen. 42

Im Prinzip führt sich damit auch die Intersektionalität ad absurdum. Welches Wissen als feministisch, anti-rassistisch oder auch klassenkämpferisch gilt, das ist durch die Normen von sozial privilegierten Gruppen angeleitet – und damit potentiell nach unten gerichtet. 43 Im Ergebnis sehen wir linke Gruppen, die nominell für die Arbeiterklasse da sind, sich der klassistischen Wirkung ihrer Mikropolitik aber nicht mal bewusst sind. Obwohl inklusiv gemeint, ist sie nicht nur kulturell inkompatibel mit den Massen, sondern auch materiell: Identitätspolitik ist zeitintensiv; man muss sie sich leisten können. 44 Dasselbe gilt auch für die Organisationsform. Hier wählen Linke von heute gerne Strukturen und Verfahren, die besonders ressourcenintensiv sind. Das passt ganz gut zu den Lebensrealitäten etwa von Studenten, aber sicher nicht zu denen, die beruflich und familiär stark eingebunden sind. Auch ehrenamtliche Arbeit und ständige Plena muss man sich leisten können. 45 Im Endeffekt wirkt das vor allem als struktureller Sexismus Struktureller Sexismus
Ein Problem, das durch antisexistische Praxen verstärkt wird
gegen Frauen aus den unteren Klassen, die häufig viel weniger Zeit haben als Männer. 46 Auf verschiedene Weise reproduziert so die Linke eine juvenile, privilegierte Zusammensetzung – und damit eine Wissensordnung, in der dieses Problem selbst kein diskursives Gewicht erlangt. 47 Es beißt sich hier die Katze in den Schwanz: Denn für eine andere soziale Zusammensetzung bräuchte es einen epistemischen Wandel. Und dafür bräuchte es jene andere Zusammensetzung. 48