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VI.

Abtragen und Aufbauen

Die Konstitutionalisierung der sozialen Sphären
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Das Soziale mit dem Liberalen zusammenzubringen, das ist dem liberalen Teil des progressiven Lagers bisher besser gelungen als seinem linken. Dieser scheiterte mit seiner eindimensionalen Ordnungsvorstellung daran, eine soziale Kontrolle »von unten« mit einer politischen Kontrolle »von oben« zu verbinden, wie es etwa Korsch einforderte. 1 Das spezifische Produzenteninteresse, wie es in sozialrevolutionären Politiken verkörpert wird, ist eben mit dem allgemeinen Interesse in Einklang zu bringen, damit sich verschiedene Ordnungsdimensionen ins Benehmen setzen. 2 Eine solche Perspektive war der Linken seit der Kommune aber verstellt. Revolutionen dachte sie sich nur als Frage ums Ganze, wo die politische Macht zu erobern und/oder aufzulösen ist. 3 Praktisch bedeutete das die Selbstaufhebung der Revolution. Denn wenn der Ordnungsbruch mit empirischer Verlässlichkeit zu schlechten Ergebnissen führt, ist der Revolutionär noch weniger als der Reformist. 4 Dass im Sozialismus der 1920er vermehrt Diskussionen aufkamen, die den Widerspruch von Reform und Revolution aufzulösen versuchten, kommt nicht von ungefähr. Und es war dieser Scheidepunkt, an dem Viktor Tschernow Viktor Tschernow
Jemand, der Russland auf den dritten Weg bringen wollte
vermutete, der Sozialismus würde nun in eine neue Periode eintreten, in der die Erfahrungen des utopischen Sozialismus und des (vor-)wissenschaftlichen Sozialismus zu einem positiven Programm der Transformation zusammenfließen: einem konstruktiven Sozialismus. 5

»Praktisch bedeutete das die Selbstaufhebung der Revolution. Denn wenn der Ordnungsbruch mit empirischer Verlässlichkeit zu schlechten Ergebnissen führt, ist der Revolutionär noch weniger als der Reformist.«

Dass es der Faschismus war, der diese Versuche jäh unterbrach, ist bittere Ironie. Denn wie Tschernow andeutete, bewegte sich die Diskussion nun dahin zurück, wo sozialistische Außenseiter schon früher waren, bevor der Revolutionsmythos alles in den Schatten stellte. 6 Und deren Perspektiven waren im Grunde die Antithese zur faschistischen Ordnungsvorstellung, deren Appeal auch darin bestand, eine funktionale Differenzierung für eine komplexe Moderne zu versprechen. Tatsächlich zeichnete sich der Faschismus auch dadurch aus, dass er soziale Akteure stärker in den politischen Prozess einbezog. 7 Dieser Korporatismus Korporatismus
Ein Ordnungskonzept, das in die völlig falsche Richtung geht
war aber autoritär und nationalistisch verfasst. Er basierte auf der Zwangsmitgliedschaft in Einheitsverbänden ohne demokratische Mitsprache. Die Funktionsteilung diente hier vielmehr dazu, das angebliche nationale Interesse – als Synonym für das Gemeinwohl – effektiv nach Innen durchzusetzen: gegen spezifische soziale Interessen. Die entsprechenden Hierarchien, etwa von Unternehmer- und Arbeiterverbänden, waren insofern Ständeordnungen, mit denen die sozialen Widersprüche zementiert wurden. 8 Dagegen stand etwa der Gildensozialismus, der manche Ideen aus dem Republikanismus und dem Syndikalismus weiterdachte und zu einer Pluralismustheorie ausformte, 9 für eine funktionale Differenzierung in umgekehrter Richtung: hier sollten gesellschaftliche Teilbereiche demokratisiert werden, um die sozialen Widersprüche abzutragen. 10

Die Perspektive einer Demokratisierung jener Teilbereiche eröffnet neue Wege für den Sozialismus. Denn durch sie werden sozialistische »Teillieferungen« denkbar, wie sie auch Bernstein vorschwebten, 11 und zugleich das Problem des radikalen Utopismus ausgeräumt: dass nämlich das Abenteuer des Ordnungsbruchs Polarisierung erzeugt und gerne eskaliert. 12 Dem trägt ja auch heute der Demokratische Konföderalismus Demokratischer Konföderalismus
Ein Gesellschaftsmodell, das aus der Sackgasse führen soll
Rechnung, wenn er demokratische Säulen im Sozialen zu schaffen und zu verbinden versucht. 13 Denkt man sich, darüber hinaus, die Transformation gar als Verfassungsfrage, dann werden »Mikrorevolutionen« 14 vorstellbar: »fortgesetzte … Neugründungen, welche in das institutionelle Gehäuse der Republik nachströmen« 15 . Die fragile Hülle der Demokratie durch die Anreicherung und Verknüpfung mit weiteren Institutionen zu stärken, statt sie durch revolutionäres Übermaß zu sprengen, das war etwas, das auch Albert Camus Albert Camus
Jemand, der den Revoluzzern Maß beibringen wollte
andeutete. 16 So sah dieser Ansätze für einen radikalen Possibilismus, der das Beste aus den bestehenden Möglichkeiten macht, in der (revolutionären) Gewerkschaftsbewegung. Indem sie die Utopie auf »die konkreteste Wirklichkeit« stützte, habe sie eine gerechtere Gesellschaft selbst in monarchischen Kontexten ermöglicht. 17 Und tatsächlich war ja auch schon die »bürgerliche Revolution« kein Ordnungsbruch, sondern eine schleichende Verdichtung von demokratischen Elementen, insbesondere rechtlicher und sozialer Sicherheiten. 18

Genau genommen hat jene Verdichtung bereits über das Politische hinaus Raum gegriffen. Das spiegelt sich etwa im Subsidiaritätsprinzip wider, mit dem die Politik Verantwortung an Vereine, Initiativen oder Projekte abtritt, die dem sozialen Leben quasi-konstitutionelle Elemente verleihen. 19 Oder in Gestalt von Sozialparlamenten: einer Selbstverwaltung der Wohlfahrtsverbände und Ersatzkassen. 20 Vor allem aber liegt mit dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Gewerkschaftsrecht eine Verfassungsmäßigkeit im Bereich der Arbeit vor, die als partielle Demokratisierung jener Sphäre verstanden werden kann. 21 Die Wirtschaft ist damit, so könnte man sagen, in die konstitutionelle Monarchie übergegangen. Dabei erkennt der liberale (Neo-)Korporatismus den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durchaus an, wenn auch das »sozialpartnerschaftliche« Moment überwiegt. 22 Generell gründet die Idee des Sozialstaats, Sozialstaat
Eine Konstruktion, die bürgerliche Freiheiten erst einigermaßen zulässt
die noch immer nachwirkt, auf der Annahme, dass zu starke Klassenwidersprüche die Demokratie untergraben. 23 Zur Stabilität von Demokratien gehören demnach nicht nur ein (begrenzter) sozialer Ausgleich – etwa durch Transferleistungen und Arbeitgeberbeteiligungen –, sondern auch Regeln des sozialen Konflikts. Dieser »demokratische Klassenkampf« wird häufig als Ausbootung der sozialistischen Arbeiterbewegung eingeordnet. 24 Man kann ihn aber auch als Ausgangspunkt für Prozesse der Sozialisierung – also die Demokratisierung des Sozialen – betrachten.

»So wie Arbeitergewerkschaften einst Träger einer ersten Konstitutionalisierung der Arbeit waren, könnten Mietergewerkschaften ein kollektives Mietrecht erstreiten, um die Feudalhaftigkeit des Wohnens abzutragen.«

Die Demokratisierung der Arbeit, sie hat nicht nur Luft nach oben, sondern auch zur Seite. Ein sozialer Konflikt liegt ja nicht nur in dieser Sphäre vor, sondern auch in der des Wohnens, wo mit Mietern und Vermietern zwei Quasi-Klassen bestehen. Es läge daher nahe, die Idee des kollektiven Arbeitsrechts auch auf diese Sphäre zu übertragen. 25 So wie Arbeitergewerkschaften einst Träger einer ersten Konstitutionalisierung der Arbeit waren, könnten etwa Mietergewerkschaften Mietergewerkschaft
Ein Organisationsansatz, der die Tür zum kollektiven Mietrecht öffnet
ein kollektives Mietrecht – einschließlich Mitbestimmung, Tarifwesen und Mietgerichten – anbahnen, um die Feudalhaftigkeit des Wohnens abzutragen. 26 Es wüchse so eine gesetzgeberische Kompetenz im Sozialen heran, die – als Normsetzung mit öffentlich-rechtlichem Charakter 27 – auch im Bereich des Verbrauchs und der Vorsorge denkbar wäre. Denn auch für die Interessengruppen der Verbraucher und Vorsorger wären gewerkschaftsähnliche Organisationen ein zweckdienliches Vehikel, um mehr Kontrolle über die Modalitäten des Konsums und der sozialen Sicherung zu erlangen. 28 Eine solche mehrarmige Gewerkschaftsbewegung, die von multiplen unteren Klassen Untere Klassen
Ein Begriff, der mehrdimensional zu denken ist
beziehungsweise multiplen sozialen Konflikten ausgeht, würde nicht nur neue Synergien für soziale Bewegung ermöglichen. 29 Ihre Arme könnten auch als Eisbrecher für eine Republik der sozialen Demokratien wirken, insofern sie in den jeweiligen sozialen Sphären der Verfassungsmäßigkeit den Weg ebnen. 30

Um den Ansprüchen eines konstruktiven Sozialismus aber zu genügen, kann man sich nicht nur auf das Abtragen verlegen. Die Demokratisierung sozialer Teilsysteme – hin zur Wirtschafts-, Liegenschafts-, Konsum- und Wohlfahrtsdemokratie – stünde immerhin für eine Wiederholung des republikanischen Gründungsmoments im Sozialen. 31 Die politische Bürgerschaft wäre demnach um Institutionen zu ergänzen, über die eine Selbstverwaltung der sozialen Sphären stattfinden kann. Und was sollen solche sozialen Bürgerschaften anderes sein als Genossenschaften? Deren transformatorisches Potential wurde von vielen Sozialisten lange verkannt. 32 So auch von Rosa Luxemburg, Rosa Luxemburg
Jemand, der genug vom ganzen Quark hatte
die Genossenschaften wegen ihrer vermeintlichen Verhaftung im Bürgerlichen für unbrauchbar hielt. 33 Erst in den Debatten um einen konstruktiven Sozialismus erhielten sie eine späte Würdigung. Mit der »bisherigen Einseitigkeit« in dieser Frage dürfe es nicht mehr so weitergehen, bemerkten etwa die Syndikalisten, 34 die damit (unbewusst) Bernsteins Vision aufgriffen: eine gewerkschaftlich-genossenschaftliche Doppelstrategie. In ihr findet das »Abtragen und Aufbauen«, das der magische Sozialismus nur abstrakt als Prinzip der sozialen Transformation benennen kann, 35 einen ganz praktischen Ausdruck. Produktions-, Bau-, Konsum- und Versicherungsgenossenschaften, 36 das sind Bausteine für eine Selbstverwaltung des Sozialen, die im Fahrwasser multipler Interessenorganisationen Raum greifen könnte.