Abtragen und Aufbauen
Die Konstitutionalisierung der sozialen Sphären
Das Soziale mit dem Liberalen zusammenzubringen, das ist dem
liberalen Teil des progressiven Lagers bisher besser gelungen
als seinem linken. Dieser scheiterte mit seiner eindimensionalen
Ordnungsvorstellung daran, eine soziale Kontrolle »von unten«
mit einer politischen Kontrolle »von oben« zu verbinden, wie es
etwa Korsch einforderte.
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Das spezifische
Produzenteninteresse, wie es in sozialrevolutionären Politiken
verkörpert wird, ist eben mit dem allgemeinen Interesse in
Einklang zu bringen, damit sich verschiedene Ordnungsdimensionen
ins Benehmen setzen.
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Eine solche Perspektive
war der Linken seit der Kommune aber verstellt. Revolutionen
dachte sie sich nur als Frage ums Ganze, wo die politische Macht
zu erobern und/oder aufzulösen ist.
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Praktisch bedeutete das die Selbstaufhebung der Revolution. Denn
wenn der Ordnungsbruch mit empirischer Verlässlichkeit zu
schlechten Ergebnissen führt, ist der Revolutionär noch weniger
als der Reformist.
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Dass im Sozialismus der
1920er vermehrt Diskussionen aufkamen, die den Widerspruch von
Reform und Revolution aufzulösen versuchten, kommt nicht von
ungefähr. Und es war dieser Scheidepunkt, an dem
Viktor Tschernow
Viktor Tschernow
Jemand, der Russland auf den dritten Weg bringen wollte
vermutete, der Sozialismus würde nun in eine neue Periode
eintreten, in der die Erfahrungen des utopischen Sozialismus und
des (vor-)wissenschaftlichen Sozialismus zu einem positiven
Programm der Transformation zusammenfließen: einem konstruktiven
Sozialismus.
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»Praktisch bedeutete das die Selbstaufhebung der Revolution. Denn wenn der Ordnungsbruch mit empirischer Verlässlichkeit zu schlechten Ergebnissen führt, ist der Revolutionär noch weniger als der Reformist.«
Dass es der Faschismus war, der diese Versuche jäh unterbrach,
ist bittere Ironie. Denn wie Tschernow andeutete, bewegte sich
die Diskussion nun dahin zurück, wo sozialistische Außenseiter
schon früher waren, bevor der Revolutionsmythos alles in den
Schatten stellte.
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Und deren Perspektiven
waren im Grunde die Antithese zur faschistischen
Ordnungsvorstellung, deren Appeal auch darin bestand, eine
funktionale Differenzierung für eine komplexe Moderne zu
versprechen. Tatsächlich zeichnete sich der Faschismus auch
dadurch aus, dass er soziale Akteure stärker in den politischen
Prozess einbezog.
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Dieser
Korporatismus
Korporatismus
Ein Ordnungskonzept, das in die völlig falsche Richtung geht
war aber autoritär und nationalistisch verfasst. Er basierte auf
der Zwangsmitgliedschaft in Einheitsverbänden ohne demokratische
Mitsprache. Die Funktionsteilung diente hier vielmehr dazu, das
angebliche nationale Interesse – als Synonym für das Gemeinwohl
– effektiv nach Innen durchzusetzen: gegen spezifische soziale
Interessen. Die entsprechenden Hierarchien, etwa von
Unternehmer- und Arbeiterverbänden, waren insofern
Ständeordnungen, mit denen die sozialen Widersprüche zementiert
wurden.
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Dagegen stand etwa der
Gildensozialismus, der manche Ideen aus dem Republikanismus und
dem Syndikalismus weiterdachte und zu einer Pluralismustheorie
ausformte,
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für eine funktionale
Differenzierung in umgekehrter Richtung: hier sollten
gesellschaftliche Teilbereiche demokratisiert werden, um die
sozialen Widersprüche abzutragen.
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Die Perspektive einer Demokratisierung jener Teilbereiche
eröffnet neue Wege für den Sozialismus. Denn durch sie werden
sozialistische »Teillieferungen« denkbar, wie sie auch Bernstein
vorschwebten,
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und zugleich das Problem des
radikalen Utopismus ausgeräumt: dass nämlich das Abenteuer des
Ordnungsbruchs Polarisierung erzeugt und gerne
eskaliert.
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Dem trägt ja auch heute der
Demokratische Konföderalismus
Demokratischer Konföderalismus
Ein Gesellschaftsmodell, das aus der Sackgasse führen soll
Rechnung, wenn er demokratische Säulen im Sozialen zu schaffen
und zu verbinden versucht.
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Denkt man sich,
darüber hinaus, die Transformation gar als Verfassungsfrage,
dann werden »Mikrorevolutionen«
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vorstellbar: »fortgesetzte … Neugründungen, welche in das
institutionelle Gehäuse der Republik nachströmen«
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. Die fragile Hülle der Demokratie durch die Anreicherung und
Verknüpfung mit weiteren Institutionen zu stärken, statt sie
durch revolutionäres Übermaß zu sprengen, das war etwas, das
auch
Albert Camus
Albert Camus
Jemand, der den Revoluzzern Maß beibringen wollte
andeutete.
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So sah dieser Ansätze für einen
radikalen Possibilismus, der das Beste aus den bestehenden
Möglichkeiten macht, in der (revolutionären)
Gewerkschaftsbewegung. Indem sie die Utopie auf »die konkreteste
Wirklichkeit« stützte, habe sie eine gerechtere Gesellschaft
selbst in monarchischen Kontexten ermöglicht.
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Und tatsächlich war ja auch schon die »bürgerliche Revolution«
kein Ordnungsbruch, sondern eine schleichende Verdichtung von
demokratischen Elementen, insbesondere rechtlicher und sozialer
Sicherheiten.
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Genau genommen hat jene Verdichtung bereits über das Politische
hinaus Raum gegriffen. Das spiegelt sich etwa im
Subsidiaritätsprinzip wider, mit dem die Politik Verantwortung
an Vereine, Initiativen oder Projekte abtritt, die dem sozialen
Leben quasi-konstitutionelle Elemente verleihen.
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Oder in Gestalt von Sozialparlamenten: einer Selbstverwaltung
der Wohlfahrtsverbände und Ersatzkassen.
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Vor allem aber liegt mit dem Betriebsverfassungsgesetz und dem
Gewerkschaftsrecht eine Verfassungsmäßigkeit im Bereich der
Arbeit vor, die als partielle Demokratisierung jener Sphäre
verstanden werden kann.
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Die Wirtschaft ist
damit, so könnte man sagen, in die konstitutionelle Monarchie
übergegangen. Dabei erkennt der liberale (Neo-)Korporatismus den
Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durchaus an, wenn auch das
»sozialpartnerschaftliche« Moment überwiegt.
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Generell gründet die Idee des
Sozialstaats,
Sozialstaat
Eine Konstruktion, die bürgerliche Freiheiten erst einigermaßen zulässt
die noch immer nachwirkt, auf der Annahme, dass zu starke
Klassenwidersprüche die Demokratie untergraben.
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Zur Stabilität von Demokratien gehören demnach nicht nur ein
(begrenzter) sozialer Ausgleich – etwa durch Transferleistungen
und Arbeitgeberbeteiligungen –, sondern auch Regeln des sozialen
Konflikts. Dieser »demokratische Klassenkampf« wird häufig als
Ausbootung der sozialistischen Arbeiterbewegung
eingeordnet.
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Man kann ihn aber auch als
Ausgangspunkt für Prozesse der Sozialisierung – also die
Demokratisierung des Sozialen – betrachten.
»So wie Arbeitergewerkschaften einst Träger einer ersten Konstitutionalisierung der Arbeit waren, könnten Mietergewerkschaften ein kollektives Mietrecht erstreiten, um die Feudalhaftigkeit des Wohnens abzutragen.«
Die Demokratisierung der Arbeit, sie hat nicht nur Luft nach
oben, sondern auch zur Seite. Ein sozialer Konflikt liegt ja
nicht nur in dieser Sphäre vor, sondern auch in der des Wohnens,
wo mit Mietern und Vermietern zwei Quasi-Klassen bestehen. Es
läge daher nahe, die Idee des kollektiven Arbeitsrechts auch auf
diese Sphäre zu übertragen.
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So wie
Arbeitergewerkschaften einst Träger einer ersten
Konstitutionalisierung der Arbeit waren, könnten etwa
Mietergewerkschaften
Mietergewerkschaft
Ein Organisationsansatz, der die Tür zum kollektiven Mietrecht öffnet
ein kollektives Mietrecht – einschließlich Mitbestimmung,
Tarifwesen und Mietgerichten – anbahnen, um die Feudalhaftigkeit
des Wohnens abzutragen.
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Es wüchse so eine
gesetzgeberische Kompetenz im Sozialen heran, die – als
Normsetzung mit öffentlich-rechtlichem Charakter
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– auch im Bereich des Verbrauchs und der Vorsorge denkbar wäre.
Denn auch für die Interessengruppen der Verbraucher und
Vorsorger wären gewerkschaftsähnliche Organisationen ein
zweckdienliches Vehikel, um mehr Kontrolle über die Modalitäten
des Konsums und der sozialen Sicherung zu erlangen.
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Eine solche mehrarmige Gewerkschaftsbewegung, die von multiplen
unteren Klassen
Untere Klassen
Ein Begriff, der mehrdimensional zu denken ist
beziehungsweise multiplen sozialen Konflikten ausgeht, würde
nicht nur neue Synergien für soziale Bewegung
ermöglichen.
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Ihre Arme könnten auch als
Eisbrecher für eine Republik der sozialen Demokratien wirken,
insofern sie in den jeweiligen sozialen Sphären der
Verfassungsmäßigkeit den Weg ebnen.
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Um den Ansprüchen eines konstruktiven Sozialismus aber zu
genügen, kann man sich nicht nur auf das Abtragen verlegen. Die
Demokratisierung sozialer Teilsysteme – hin zur Wirtschafts-,
Liegenschafts-, Konsum- und Wohlfahrtsdemokratie – stünde
immerhin für eine Wiederholung des republikanischen
Gründungsmoments im Sozialen.
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Die
politische Bürgerschaft wäre demnach um Institutionen zu
ergänzen, über die eine Selbstverwaltung der sozialen Sphären
stattfinden kann. Und was sollen solche sozialen Bürgerschaften
anderes sein als Genossenschaften? Deren transformatorisches
Potential wurde von vielen Sozialisten lange verkannt.
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So auch von
Rosa Luxemburg,
Rosa Luxemburg
Jemand, der genug vom ganzen Quark hatte
die Genossenschaften wegen ihrer vermeintlichen Verhaftung im
Bürgerlichen für unbrauchbar hielt.
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Erst in
den Debatten um einen konstruktiven Sozialismus erhielten sie
eine späte Würdigung. Mit der »bisherigen Einseitigkeit« in
dieser Frage dürfe es nicht mehr so weitergehen, bemerkten etwa
die Syndikalisten,
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die damit (unbewusst)
Bernsteins Vision aufgriffen: eine
gewerkschaftlich-genossenschaftliche Doppelstrategie. In ihr
findet das »Abtragen und Aufbauen«, das der magische Sozialismus
nur abstrakt als Prinzip der sozialen Transformation benennen
kann,
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einen ganz praktischen Ausdruck.
Produktions-, Bau-, Konsum- und
Versicherungsgenossenschaften,
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das sind
Bausteine für eine Selbstverwaltung des Sozialen, die im
Fahrwasser multipler Interessenorganisationen Raum greifen
könnte.