Im Autopilot
Von der Trägheit der Demokratie
Es steht ein Pferd auf dem Flur der Geschichte. Von ihm erzählte uns lange Zeit der Liberalismus. Doch es ist lahm geworden. Oder wer glaubt noch, dass unsere Demokratie die Gerechtigkeit herstellen wird, auf der wirkliche Freiheit wachsen kann? Zumal jetzt, wo sie eine neuerliche Krise durchläuft. Immerhin hat uns nicht nur Corona Nöte beschert. Auf das pandemische Tief folgte der Krieg – und der bringt auch wirtschaftliche und soziale Böen. Das alles ist aber auch eine epistemische Krise. Denn eigentlich verfügt die Welt des 21. Jahrhunderts über enorme Reichtümer. Sowohl an Mitteln als auch an Wissen. Diese Potenziale abzurufen, darin versagen die real existierenden Demokratien spürbar. Das gilt nicht nur für ihren Krisenmodus, der weder eine clevere Bekämpfung von Corona zuließ, noch eine faire Lastenverteilung im (Wirtschafts-)Krieg.
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Es gilt auch und grundsätzlich für ihren Normalmodus. Mit ihm lässt sich die anhaltende soziale Frage nicht lösen, die seit eh und je als Verstärker politischer Instabilität wirkt. In Krisensituationen allemal. Die Digitalisierung, die in Form der sozialen Medien die
Polarisierung
Polarisierung
Ein Prozess, der den Fortschritt in die Klemme bringt
befeuert,
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macht das Ganze nicht einfacher. Dass über all dem auch noch die ökologische Frage schwebt, noch nicht mal mitgedacht. Mit zynischer Selbstverachtung schauen wir denn auch in die Zukunft. Dass die Institutionen unserer Gesellschaft beherzt oder gerecht auf jetzige und kommende Probleme antworten könnten, diese Illusion ist spätestens an der Corona-Krise endgültig zerschellt.
»Wir sind Schlafwandler. Wir alle. Nicht nur die da oben. Sogar die angebliche Systemalternative, die sogenannte Linke, läuft im Autopilot. Auf die kapitalistischen oder rechten Routinen antwortet sie bloß mit ihren eigenen.«
Wir sind Schlafwandler. Wir alle. Nicht nur die da oben. Sogar
die angebliche Systemalternative, die sogenannte Linke, läuft im
Autopilot. Auf die kapitalistischen oder rechten Routinen
antwortet sie bloß mit ihren eigenen. Die einen hängen an
revolutionären Vorstellungen, die schon lange nicht mehr
kompatibel mit den demokratischen Gesellschaften sind, bieten
diese doch – trotz sozialer Ungleichheit – gewisse Freiheiten
und Sicherheiten. Genügend jedenfalls, um eine Grundskepsis
gegenüber Bewegungen zu nähren, die sie für utopische Abenteuer
riskieren wollen.
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Andere wiederum erschöpfen
sich in der Logik des Parlamentarismus, der jenseits
parteipolitischer Mehrheiten keine soziale Gestaltungsmacht
kennt. Was aber beide Formen der Linken in ihrer Verlegenheit
eint, sind
identitätspolitische Praxen,
Identitätspolitik
Ein Begriff, der von der Linken zur Karikatur gemacht wurde
von denen man sich eine Ermächtigung subalterner Gruppen
erhofft.
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Tatsächlich konnte die Linke – oder
genauer: konnten die Konzepte, die nun mit ihr verbunden werden
– an diskursiver Wirkmacht gewinnen. Politisch-kulturell
entfernte sie sich damit aber von großen Teilen der Bevölkerung.
Blöderweise auch von den linken Zielgruppen, die für sozialen
Wandel entscheidend sind: die einfachen Menschen – darunter
viele Migranten und Frauen.
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Und so kann sie wohl kaum die soziale Mächtigkeit herstellen,
die ein Umbau der politischen Institutionen verlangt. Es
erzählen uns daher auch die etwas vom Pferd, die die Linke als
Alternative belobigen. Sie ist Teil des Schlamassels.
Linke und Liberale, sie stecken in der Klemme. Immerhin hat
Corona offengelegt, wie schwerfällig die Prozesse in Demokratien
sein können – und dass es vorhandener Kompetenz zur
Problemlösung oftmals an Autorität mangelt. Die Führung macht
zuweilen einen Unterschied, wie das Beispiel von
Jacinda Ardern
Jacinda Ardern
Jemand, der die Kiwis etwas unkonventionell regierte
in Neuseeland zeigt. Im Allgemeinen aber geht der Trend zu
Trägheit und Mittelmaß. Und dass der Schlüssel zur Lösung der
großen Menschheitsprobleme ein bloßes Mehr an Demokratie
beziehungsweise an Freiheiten sein soll, daran darf man nicht
nur wegen der jüngsten Erfahrungen mit Föderalismus und
Eigenverantwortung zweifeln. Vielmehr zeigen auch die in der
Linken beliebten anti-autoritären Organisationsformen ebenso wie
die digitalen Räume, dass Selbstorganisation ihre Schattenseiten
hat. Sie ermöglicht Einzelnen zwar mehr Mitsprache, aber
Expertenwissen und auch Vernunft dringen hier, wo der analoge
oder virtuelle Schwarm regiert, auch nicht so recht durch. Ganz
davon abgesehen, dass man als Kollektiv kaum handlungsfähig ist.
Allenfalls in Form einer kopflosen Gruppendynamik, aber nicht im
Sinne eines zielgerichteten, sachkundigen
Problemmanagements.
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Die linke Illusion der Selbstorganisation – die kleine Schwester
der liberalen Eigenverantwortung –, auch sie zerschellte am
pandemischen Stresstest. Was bleibt dann aber noch übrig, wenn
die Alternative in kommenden Krisen keine autoritäre sein soll?