Kapitel 1 bis 7 jetzt online!
V.

Der Weg des konstruktiven Sozialismus

Demokratisierung als Sozialisierung
← Kapitel abspielen

Da hatten die Anarcho-Gewerkschafter also die Probleme umgangen, die den Marxismus auffahren ließen. Dafür scheiterten sie aber an einem anderen Problem: dem der Ordnungssicherheit. 1 Immerhin bringen Versuche der Umwälzung stets eine Verunsicherung mit sich, die Kräfte zur Wiederherstellung der Ordnung aktiviert. Und in diesem Konflikt – bis hin zum Bürgerkrieg – erwiesen sich die relativ horizontalen Strukturen des Anarchismus als untauglich. 2 Die Marxisten mit ihren autoritären Organisationen waren hier realistischer – wenngleich insgesamt auf dem Holzweg. Durch die Erfahrungen mit sowohl der Russischen Revolution als auch eigenen Aufständen entspann sich denn auch im Syndikalismus der 1920er und 1930er eine Debatte um dieses Problem. 3 So warnt etwa das Manifest der Dreißig Manifest der Dreißig
Etwas, das auf tragische Weise Recht hatte
vor einer Art backlash: Ein zu schnelles Voranschreiten der Revolutionäre (hier konkret: in Spanien) dürfte zu Reaktionen führen, die den Fortschritt zurückwerfen. 4 Zuvor schon hatten Theoretiker wie Rudolf Rocker Rudolf Rocker
Jemand, der früh den Kultus der Revolution gelehrt bekam
in der Arbeiterbewegung eine gefährliche Revolutionsmythologie ausgemacht; 5 die wiederum Alexander Schapiro Alexander Schapiro
Jemand, dem die anarchistischen Kinderschuhe stanken
durch eine reflexive Praxistheorie ersetzt sehen wollte. 6 Die herrschende Ordnung, sie müsse zwar überwunden werden, doch sei eine solche Transformation nur annährungsweise zu denken: Unter Berücksichtigung des real Machbaren, das in der Interaktion mit politischen Gegnern und den eigenen Unzulänglichkeiten seine Grenzen findet. 7

»Chaos und Gewalt mögen von Revolutionären zwar nicht gewünscht sein; die Destruktion einer komplexen Ordnung birgt aber immer auch Dynamiken, deren Folgen kaum berechenbar sind. Und damit nicht zu verantworten.«

Damit leiteten die Syndikalisten – von Max Weber Max Weber
Jemand, der harte Bretter langsam bohrte
gerade noch der Gesinnungsethik verdächtigt – eine verantwortungsethische Wende ein. 8 Indem sie die »unbeabsichtigten Nebenfolgen« des eigenen Handelns anerkannten, 9 erkannten sie indirekt auch einen validen Punkt konservativer Revolutionskritik an: Chaos und Gewalt mögen von Revolutionären zwar nicht gewünscht sein; die Destruktion einer komplexen Ordnung birgt aber immer auch Dynamiken, deren Folgen kaum berechenbar sind. 10 Und damit nicht zu verantworten. Tatsächlich ist die empirische Bilanz gerade von horizontalen Aufständen verheerend. Nicht erst mit dem Arabischen Frühling führten sie regelmäßig zu Bürgerkrieg und Diktatur. 11 Auch im Zeitalter der Revolutionen konnten freiheitliche Kräfte selten der Reaktion standhalten oder ließen sich von autoritären Mitspielern die Butter vom Brot nehmen. 12 Es ist nämlich das eine, die »konstituierte Macht« zu destituieren – und etwas anderes, eine Alternative zu instituieren; immerhin müssten diese ja die sozialen Beziehungen »im großen Stil« reorganisieren. 13 Aber gerade anti-autoritäre Kräfte befinden sich in der Sequenz des Ordnungsbruchs noch in der Selbstfindung. 14 Hier schlägt das revolutionäre Pendel gemeinhin zurück. 15 Denn bei aller Prekarität der alten Institutionen: Reaktionäre Kräfte oder autoritäre Systemalternativen können sich ihrer noch immer bedienen, um freiheitliche Kräfte zurückzuwerfen. 16

Um also den backlash zu umgehen, legte man den Fokus nun stärker auf den Aufbau von eigenen Institutionen, die das Utopische bereits in der Gegenwart entfalten sollten. Diese Debatte – in Deutschland unter dem Schlagwort des »konstruktiven Sozialismus« geführt – 17 endete jäh mit dem Faschismus. 18 Aber sie wäre wohl auch so im Sande verlaufen. Denn nun verzichtete man zwar auf die destruktive Operation, den bürgerlichen Staat abschaffen zu wollen. Indem man sich aber seiner Institutionen weiter verwehrte, 19 liefen die Ideen auf eine Nischenwirtschaft hinaus, wie sie später in der Alternativökonomie und Freiraum-Bewegung Freiraum
Ein Begriff, der die sozialen Tatsachen verdreht
praktiziert wurde. Gerade diese Verlegenheitslösung, die revolutionär sein will, ohne Revolution zu machen, zeigt, wie sich das Vergessen des Republikanismus auf die sozialistische Vorstellungskraft ausgewirkt hat. Man suchte nicht etwa nach bestehenden Vermittlungsformen, die sich verknüpfen lassen, um einen institutionellen Funktionswandel zu ermöglichen. Nein, man fokussierte auf die Schaffung eigener Vermittlungsformen, die mit der herrschenden Ordnung möglichst wenig in Berührung kommen. Für einen wirklichen konstruktiven Sozialismus brachte der Spätsyndikalismus daher gar nicht die ideellen Anlagen mit. Er sah den Dienst des Republikanismus bereits mit der Einführung der allgemeinen Demokratie getan – und verkannte damit das sozialistische Potential einer Bürgerschaft, deren Selbstverwaltung sich über das gesamte Gemeinwesen erstreckt. 20

»Das Prinzip der Republik auch auf die Wirtschaft anzuwenden, wie es Teile der frühen Arbeiterbewegung forderten, bedeutet eben, die bürgerliche Republik als erste Teilverwirklichung einer sozialistischen Ordnung zu begreifen.«

Dabei hatte sich einst schon in der Schnittmenge von Republikanismus und Sozialismus ein neues Demokratieverständnis abgezeichnet. Ein Verständnis, das dem Sozialismus gleich mehrere Möglichkeiten bietet, sich zu vermitteln. Das Prinzip der Republik auch auf die Wirtschaft anzuwenden, wie es Teile der frühen Arbeiterbewegung forderten, 21 bedeutet eben, die bürgerliche Republik als erste Teilverwirklichung einer sozialistischen Ordnung zu begreifen. 22 Tatsächlich hatten sozialistische Republikaner einst gegen die noch frische Behauptung protestiert, dass die Republik bloß die Staatsform der Bourgeoisie sein solle. Eine »beliebte Phrase von Marx« sei das, bemerkte etwa 1854 Eduard Wiß, Eduard Wiß
Jemand, der ein paar blödsinnige Artikel gegen Marx schrieb
der in der Republik eine wichtige Rechtssicherheit sah: die »Garantie allgemeiner freier Volksentwicklung«. 23 Erst wenn diese stark genug sei, könne die Republik zum Sozialismus neigen. 24 Die politische Demokratie als eine notwendige Bedingung für das Werden des Sozialismus zu benennen – das war in dieser Zeit jedoch nicht so naheliegend. 25 Der Sozialismus durchlief seine Formierungsphase eben noch in einer Ära des autoritären Zentralstaats. Wo die Demokratie selbst noch am Keimen war, konnten die Potentiale einer sozialen Transformation durch die bürgerlichen Vermittlungsformen gar nicht ausgelotet werden. Die republikanischen Ordnungsvorstellungen gerieten so zunächst in Vergessenheit und kamen erst spät – wenn auch durch die Blume – zurück in die Diskussion. 26

Zurück zum Republikanismus – ein solcher Wind lag vor allem in der Luft, weil er für das erfahrene Problem der Ordnungssicherheit Abhilfe versprach: jenes Problem, das auch in der Revolutionskritik des Reformsozialismus als zentrales Motiv aufscheint. 27 Und so sollte es nicht verwundern, dass kein geringerer als Eduard Bernstein Eduard Bernstein
Jemand, dem ein falscher Ruf vorauseilt
um die Jahrhundertwende die Losung »zurück auf Lange« ausgab. 28 Also Friedrich Albert Lange. Der übertrug 1865 die Idee des Konstitutionalismus in das Ökonomische. 29 Womit er einer Idee von Pierre-Joseph Proudhon Pierre-Joseph Proudhon
Jemand, der die Französische Revolution vollenden wollte
folgte, der sich etwa Fabriken als »kleine Republiken der Arbeiter« ausmalte. 30 Lange verfeinerte diese Idee dahingehend, dass einer republikanisch organisierten Wirtschaft eine Lernstufe vorangehen müsse, die er als eine der »konstitutionellen Fabrik« bezeichnete. 31 Wie auch im Politischen der Übergang von vielen Monarchien zur Demokratie durch zunehmende Verfassungselemente vollzogen wurde, ließe sich ja auch das Soziale konstitutionalisieren, das weitestgehend feudal funktioniert. 32 Darauf bezog sich jedenfalls Bernstein, als er dem sozialdemokratischen Vakuum an Transformationskonzepten etwas entgegensetzte, das man durchaus als Programm des konstruktiven Sozialismus einordnen kann: 33 die Vorstellung, dass Gewerkschaften und Genossenschaften als Vollzugsorgane der Demokratie fungieren – und als solche einer Demokratisierung der Wirtschaft den Weg ebnen könnten. 34

Die Sozialdemokratie missverstand aber Bernsteins Ideen. 35 Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzte bei ihr ein Umdenken ein. Denn die Novemberrevolution, sie hatte nicht den Kapitalismus abgeschafft, sondern eine Republik geschaffen. In der folgenden Debatte über Sozialisierung machte sich nun bemerkbar, dass man es lange verschmäht hatte, sich über positive Formeln des sozialistischen Aufbaus Gedanken zu machen. Schon der Begriff der Sozialisierung war neu, bezeichnete er doch das Ringen um die Wirtschaftsordnung innerhalb einer Republik. 36 Dabei dämmerte es nun einigen, dass dies nicht nur die Abschaffung von Privateigentum meinen muss, sondern auch als Ausweitung der Mitsprache in den Sozialbeziehungen verstanden werden kann. Wenn etwa das Produzenteninteresse, das ein anderes ist als das allgemeine Interesse, direkten Einfluss auf die Spielregeln des Produzierens hätte, dann wäre im Bereich der Arbeit eine soziale Kontrolle gegeben, die die Untertanen der Wirtschaft zu ihren Bürgern macht. Mehr noch: Es kann »in einem guten Fabrikgesetz«, wie es Bernstein nannte, sogar »mehr Sozialismus stecken als in einer Verstaatlichung von etlichen hundert Unternehmungen«. 37 Und tatsächlich muss man unter dem Strich Noam Chomsky Noam Chomsky
Jemand, der sich nichts vom Pferd erzählen lässt
ja darin zustimmen, dass die liberalen Sozialstaaten mit ihren Arbeiterrechten – einschließlich kollektiver Mitsprache und Repräsentation – letztlich mehr sozialistischen Gehalt aufweisen als manche »sozialistischen« Systeme. 38