Kapitel 1 bis 7 jetzt online!
II.

Demokratisierung im Plural

Die Republik der sozialen Demokratien
← Kapitel abspielen

Dass die »Entscheidung des Abendlandes« 1 heute bloß zwischen mehr oder weniger Autorität zu bestehen scheint, verweist auf eine Eindimensionalität im demokratischen Diskurs, die nicht erst mit dem TINA-Mantra TINA-Mantra
Ein Schlachtruf, der dem Marxismus im Vulgären nacheifert
nach dem »Ende der Geschichte« begründet wurde. 2 Schon bevor sich die sozialistischen Systeme real erledigt hatten, war das Verhältnis von politischem Liberalismus und Sozialismus dermaßen belastet, dass sich beide Denkschulen nur auf sich bezogen, statt sich co-kreativ zu ergänzen. Das war keineswegs selbstverständlich. Denn beide Schulen entspringen der Aufklärung, und in eben selbiger war es ein zentrales Thema, dass (bürgerliche) Freiheit und (soziale) Gleichheit einander bedingen. 3 Zwar finden wir im Anarchismus, also im freiheitlichen Sozialismus, noch länger den Hinweis, dass die beiden Schulen zu synthetisieren seien. 4 Und auch in sozialdemokratischen oder keynesianischen Politiken finden wir Momente einer wechselseitigen Bezugnahme. 5 Dennoch überwiegt seit einer geraumen Weile das Verständnis, dass sich Demokratie und Sozialismus eher reiben statt brauchen. Die Möglichkeiten des demokratisch Denkbaren beschränkte dies ebenso wie die Denkbarkeit des sozialistisch Möglichen. Und als Markstein dieser Diskursverengung lässt sich ausgerechnet ein Ereignis benennen, das in der Linken gerade noch als historische Erweiterung der sozialistischen Möglichkeiten erinnert wurde: die Pariser Kommune. Pariser Kommune
Der Mythos, mit dem ein sozialer Republikanismus zerschlagen wurde

»Die Möglichkeiten des demokratisch Denkbaren beschränkte dies ebenso wie die Denkbarkeit des sozialistisch Möglichen. Und als Markstein dieser Diskursverengung lässt sich ausgerechnet ein Ereignis benennen, das gerade noch als historische Erweiterung der sozialistischen Möglichkeiten erinnert wurde: die Pariser Kommune.«

Mit ihrer Erhebung vor 150 Jahren war ein Mythos geboren, der für die Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts paradigmatisch wurde. So paradigmatisch, dass der Nachklang der Ereignisse gar die These hervorbrachte, jenes Jahrhundert habe am 18. März 1871 begonnen. 6 Tatsächlich meinten damals viele Zeitgenossen, in der Kommune ein Zeichen für den Anbruch einer neuen Zeit erblickt zu haben. Sie repräsentiere eine politische Form, mit der die Befreiung der Arbeiterklasse vorweggenommen worden sei, waren sich marxistische wie auch anarchistische Interpretationen einig. 7 Als vermeintlich erste Arbeiterrevolution der Geschichte wurde die Kommune so zum Leitbild des Sozialismus. Nicht etwa wegen ihrer – doch recht amorphen – Leitsätze, die man gut und gerne auch dem Republikanismus zuordnen könnte, wie es etwa Hannah Arendt Hannah Arendt
Jemand, der Jefferson statt Lenin auf dem Nachttisch hatte
tat. 8 Es war vielmehr ihre Symbolik, die die Imagination von einer proletarischen Revolution beflügelte: eine Erhebung über die bürgerliche Revolution hinaus. 9 Mehr noch: Dieser Dualismus wurde sogar stilprägend im sozialistischen Denken – mit weitreichenden Folgen. Denn nicht nur hat sich die Annahme, die kapitalistische Gesellschaftsformation könne ähnlich wie die feudale Welt gestürzt werden, als große Illusion erwiesen. Der analoge Rückschluss von der bürgerlichen auf eine zu erwartende proletarische Revolution führte auch in eine Pfadabhängigkeit, in der der Blick auf die sozialen Potenziale einer liberalen Ordnung lange verstellt wurde. 10

Der Kommune-Mythos, er wirkte nicht nur radikalisierend, sondern auch betäubend. Er machte blind für die demokratischen Wege des Sozialismus. Fortan galt die »bürgerliche Republik« nur mehr als politische Durchsetzungsform wirtschaftlicher Interessen, der Ausbau liberaler Rechtsordnungen als ihr trügerischer Schleier. 11 Wir werden später noch auf die revolutionstheoretischen und -praktischen Folgen dieser Denkart zu sprechen kommen. Wichtig ist zunächst, dass sie einen normativen Zugang des Sozialismus zu den vorherrschenden, also den repräsentativen Vermittlungsformen Repräsentation
Ein Organisationsprinzip, das auf die Füße zu stellen ist
der Demokratie, blockierte. In dieser Weichenstellung liegt die Eindimensionalität des demokratischen Gegenwartsdiskurses nicht unwesentlich begründet. Denn so dachten sich die großen politischen Ideologien des Liberalismus und des Sozialismus die repräsentative Demokratie beide vorwiegend als politische Regierungsform, nicht aber als potentielle Organisationsform des sozialen Lebens im Ganzen. Entsprechend fokussierten sich die liberale und die sozialistische Intelligenz auf deren Konservierung beziehungsweise Überwindung. Hätte sich der Sozialismus von der liberalen Demokratievorstellung emanzipiert statt entfremdet, so hätte er in ihren praktischen Ausformungen eine erste Teilverwirklichung des Sozialismus erblicken mögen – und ihre Anwendung über die politische Sphäre hinaus einfordern können. 12

Eine solche Blickrichtung lag dem Sozialismus vor der Kommune näher als danach, sprengte ihr Mythos doch die Tradition des Republikanismus, in dessen Erbe sich große Teile der frühen Arbeiterbewegung noch gesehen hatten. 13 Zwar schien sie zuweilen noch an deren Rändern auf, etwa in Konzepten der Wirtschaftsdemokratie Wirtschaftsdemokratie
Ein Ordnungskonzept, das die Wirtschaft aus dem Mittelalter führt
(oder auch der Arbeiterselbstverwaltung), 14 und durchaus sind bis heute sozialistische Elemente in manche liberale Republik integriert, 15 doch die sozialistische Ideenwelt grenzte man insgesamt als Antithese zu bürgerlichen Vorstellungen ab. Mit diesem eigenbrötlerischen Denksystem waren die sozialistischen Strömungen fast schon darauf gebucht, auf Probleme des Ordnungswandels nur unzureichende Antworten geben zu können. Denn stets konnte dieser nur als Eroberung oder Abschaffung der als bürgerlich verbrämten Republik gedacht werden, nicht aber als ihr Ausbau. Und so bleibt heute, nach der Selbstdemontage des revolutionären Sozialismus, Linken nur noch die Wahl, sich selbst zu karikieren. Entweder setzt man sich, ganz pseudo-revolutionär, in einen künstlichen Gegensatz zu den Institutionen der Gesellschaft – und damit zu dieser selbst. Oder man fügt sich, ganz post-revolutionär, ein in die Eindimensionalität des Parlamentarismus. Damit fehlen schließlich auch der Demokratie, deren Freiheit ohne Gleichheit Lüge bleibt, die Pferdestärken, mit denen sie »realen Inhalt gewinnen und ihre inneren Widersprüche überwinden« könnte. 16

Was hier Wolfgang Abendroth Wolfgang Abendroth
Jemand, der es lange Zeit in Marburg aushielt
als »Erweiterung von der bloß politischen Demokratie zur sozialen« 17 einfordert, sollte daher weniger als Rüge an das liberale Lager verstanden werden. Man sollte darin vielmehr einen Weckruf für das sozialistische Lager hören, das vor 150 Jahren wohl falsch abgebogen ist. Soll das Abendroth‘sche Paradigma selbst nämlich realen Inhalt gewinnen, so müsste die Linke, um es mit Ja, Panik zu singen, »dahin zurück, wo's nach vorne geht«: 18 auf den verlassenen Pfad, wo Sozialismus, Republikanismus und Liberalismus zusammen ritten – und produktiv stritten. 19 Für so einen Reset müsste aber der gordische Knoten, der Kommune-Mythos, aufgelöst und seine Botschaft ins Gegenteil verkehrt werden: Statt den Sozialismus weiter gegen die Bürgerlichkeit zu wenden, bestünde die Aufgabe darin, ihre Vermittlungsformen sozialistisch zu wenden. Doch was soll überhaupt eine »soziale Demokratie« meinen, wenn nicht bloß eine parlamentarische Mehrheit, die sozialistische Politik betreibt, vielleicht hier und da etwas sozialisiert? Immerhin ist das Soziale im herkömmlichen Parlamentarismus, der nur die Allgemeinheit abbildet, nicht repräsentiert. Es wird nur grob durch das Politische verwaltet. Auf die sozialen Probleme, die – vor allem in Krisen – Bedürfnisse nach einem Ordnungswandel hervorrufen, kann die Gesellschaft daher auch nur grob antworten: etwa mit Forderungen nach mehr oder weniger Autorität.

»Ein solcher Sozialrepublikanismus würde auf die Demokratisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche abzielen. So wie die Idee der Wirtschaftsdemokratie eine demokratische Verfassung im Bereich der Arbeit vorsah, ließen sich auch die Bereiche des Wohnens, des Verbrauchs und der Vorsorge republikanisieren.«

Wir meinen, dass diese Eindimensionalität erst dann durchbrochen wird, wenn der republikanische Gedanke im Sozialen selbst Anwendung findet. Dies käme einer neuen Art von Verfassungsbewegung gleich, die nach der politischen auch die soziale Ordnung konstitutionalisiert sehen will. Ein solcher Sozialrepublikanismus würde auf die Demokratisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche abzielen, die damit einen eigenen Überbau erhielten. So wie die Idee der Wirtschaftsdemokratie eine demokratische Verfassung im Bereich der Arbeit vorsah, ließen sich auch die Bereiche des Wohnens, des Verbrauchs und der Vorsorge republikanisieren. 20 Sie lassen sich als soziale Sphären fassen, die noch immer feudal funktionieren und – analog zur Wirtschaftsdemokratie – als Liegenschafts-, Konsum- und Wohlfahrtsdemokratie zu verfassen sind. Kurz: als soziale Demokratien. 21 Und damit lassen sie sich auch als Teilordnungen eines mehrdimensionalen Gemeinwesens denken: eine Republik der sozialen Demokratien. Die sozialrepublikanische Perspektive strebt insofern nach einer Demokratie im Plural, in der die Dichotomie von vertikalen und horizontalen Lösungsansätzen aufgelöst werden kann. Die Wahl besteht eben nicht nur darin, repräsentative Demokratie zugunsten von mehr Autorität oder mehr Basisdemokratie Basisdemokratie
Ein Begriff, der den Bock zum Gärtner macht
zu relativieren. Auch eine diagonale Lösung ist möglich: die Vervielfältigung von repräsentativer Demokratie.