Demokratisierung im Plural
Die Republik der sozialen Demokratien
Dass die »Entscheidung des Abendlandes«
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heute bloß zwischen mehr oder weniger Autorität zu bestehen
scheint, verweist auf eine Eindimensionalität im demokratischen
Diskurs, die nicht erst mit dem
TINA-Mantra
TINA-Mantra
Ein Schlachtruf, der dem Marxismus im Vulgären nacheifert
nach dem »Ende der Geschichte« begründet wurde.
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Schon bevor sich die sozialistischen Systeme real erledigt
hatten, war das Verhältnis von politischem Liberalismus und
Sozialismus dermaßen belastet, dass sich beide Denkschulen nur
auf sich bezogen, statt sich co-kreativ zu ergänzen. Das war
keineswegs selbstverständlich. Denn beide Schulen entspringen
der Aufklärung, und in eben selbiger war es ein zentrales Thema,
dass (bürgerliche) Freiheit und (soziale) Gleichheit einander
bedingen.
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Zwar finden wir im Anarchismus,
also im freiheitlichen Sozialismus, noch länger den Hinweis,
dass die beiden Schulen zu synthetisieren seien.
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Und auch in sozialdemokratischen oder keynesianischen Politiken
finden wir Momente einer wechselseitigen Bezugnahme.
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Dennoch überwiegt seit einer geraumen Weile das Verständnis,
dass sich Demokratie und Sozialismus eher reiben statt brauchen.
Die Möglichkeiten des demokratisch Denkbaren beschränkte dies
ebenso wie die Denkbarkeit des sozialistisch Möglichen. Und als
Markstein dieser Diskursverengung lässt sich ausgerechnet ein
Ereignis benennen, das in der Linken gerade noch als historische
Erweiterung der sozialistischen Möglichkeiten erinnert wurde:
die
Pariser Kommune.
Pariser Kommune
Der Mythos, mit dem ein sozialer Republikanismus zerschlagen wurde
»Die Möglichkeiten des demokratisch Denkbaren beschränkte dies ebenso wie die Denkbarkeit des sozialistisch Möglichen. Und als Markstein dieser Diskursverengung lässt sich ausgerechnet ein Ereignis benennen, das gerade noch als historische Erweiterung der sozialistischen Möglichkeiten erinnert wurde: die Pariser Kommune.«
Mit ihrer Erhebung vor 150 Jahren war ein Mythos geboren, der
für die Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts paradigmatisch
wurde. So paradigmatisch, dass der Nachklang der Ereignisse gar
die These hervorbrachte, jenes Jahrhundert habe am 18. März 1871
begonnen.
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Tatsächlich meinten damals viele
Zeitgenossen, in der Kommune ein Zeichen für den Anbruch einer
neuen Zeit erblickt zu haben. Sie repräsentiere eine politische
Form, mit der die Befreiung der Arbeiterklasse vorweggenommen
worden sei, waren sich marxistische wie auch anarchistische
Interpretationen einig.
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Als vermeintlich
erste Arbeiterrevolution der Geschichte wurde die Kommune so zum
Leitbild des Sozialismus. Nicht etwa wegen ihrer – doch recht
amorphen – Leitsätze, die man gut und gerne auch dem
Republikanismus zuordnen könnte, wie es etwa
Hannah Arendt
Hannah Arendt
Jemand, der Jefferson statt Lenin auf dem Nachttisch hatte
tat.
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Es war vielmehr ihre Symbolik, die die
Imagination von einer proletarischen Revolution beflügelte: eine
Erhebung über die bürgerliche Revolution hinaus.
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Mehr noch: Dieser Dualismus wurde sogar stilprägend im
sozialistischen Denken – mit weitreichenden Folgen. Denn nicht
nur hat sich die Annahme, die kapitalistische
Gesellschaftsformation könne ähnlich wie die feudale Welt
gestürzt werden, als große Illusion erwiesen. Der analoge
Rückschluss von der bürgerlichen auf eine zu erwartende
proletarische Revolution führte auch in eine Pfadabhängigkeit,
in der der Blick auf die sozialen Potenziale einer liberalen
Ordnung lange verstellt wurde.
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Der Kommune-Mythos, er wirkte nicht nur radikalisierend, sondern
auch betäubend. Er machte blind für die demokratischen Wege des
Sozialismus. Fortan galt die »bürgerliche Republik« nur mehr als
politische Durchsetzungsform wirtschaftlicher Interessen, der
Ausbau liberaler Rechtsordnungen als ihr trügerischer
Schleier.
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Wir werden später noch auf die revolutionstheoretischen und
-praktischen Folgen dieser Denkart zu sprechen kommen. Wichtig
ist zunächst, dass sie einen normativen Zugang des Sozialismus
zu den vorherrschenden, also den
repräsentativen Vermittlungsformen
Repräsentation
Ein Organisationsprinzip, das auf die Füße zu stellen ist
der Demokratie, blockierte. In dieser Weichenstellung liegt die
Eindimensionalität des demokratischen Gegenwartsdiskurses nicht
unwesentlich begründet. Denn so dachten sich die großen
politischen Ideologien des Liberalismus und des Sozialismus die
repräsentative Demokratie beide vorwiegend als politische
Regierungsform, nicht aber als potentielle Organisationsform des
sozialen Lebens im Ganzen. Entsprechend fokussierten sich die
liberale und die sozialistische Intelligenz auf deren
Konservierung beziehungsweise Überwindung. Hätte sich der
Sozialismus von der liberalen Demokratievorstellung emanzipiert
statt entfremdet, so hätte er in ihren praktischen Ausformungen
eine erste Teilverwirklichung des Sozialismus erblicken mögen –
und ihre Anwendung über die politische Sphäre hinaus einfordern
können.
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Eine solche Blickrichtung lag dem Sozialismus vor der Kommune
näher als danach, sprengte ihr Mythos doch die Tradition des
Republikanismus, in dessen Erbe sich große Teile der frühen
Arbeiterbewegung noch gesehen hatten.
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Zwar
schien sie zuweilen noch an deren Rändern auf, etwa in Konzepten
der
Wirtschaftsdemokratie
Wirtschaftsdemokratie
Ein Ordnungskonzept, das die Wirtschaft aus dem Mittelalter führt
(oder auch der Arbeiterselbstverwaltung),
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und durchaus sind bis heute sozialistische Elemente in manche
liberale Republik integriert,
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doch die
sozialistische Ideenwelt grenzte man insgesamt als Antithese zu
bürgerlichen Vorstellungen ab. Mit diesem eigenbrötlerischen
Denksystem waren die sozialistischen Strömungen fast schon
darauf gebucht, auf Probleme des Ordnungswandels nur
unzureichende Antworten geben zu können. Denn stets konnte
dieser nur als Eroberung oder Abschaffung der als bürgerlich
verbrämten Republik gedacht werden, nicht aber als ihr Ausbau.
Und so bleibt heute, nach der Selbstdemontage des revolutionären
Sozialismus, Linken nur noch die Wahl, sich selbst zu
karikieren. Entweder setzt man sich, ganz pseudo-revolutionär,
in einen künstlichen Gegensatz zu den Institutionen der
Gesellschaft – und damit zu dieser selbst. Oder man fügt sich,
ganz post-revolutionär, ein in die Eindimensionalität des
Parlamentarismus. Damit fehlen schließlich auch der Demokratie,
deren Freiheit ohne Gleichheit Lüge bleibt, die Pferdestärken,
mit denen sie »realen Inhalt gewinnen und ihre inneren
Widersprüche überwinden« könnte.
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Was hier
Wolfgang Abendroth
Wolfgang Abendroth
Jemand, der es lange Zeit in Marburg aushielt
als »Erweiterung von der bloß politischen Demokratie zur
sozialen«
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einfordert, sollte daher weniger
als Rüge an das liberale Lager verstanden werden. Man sollte
darin vielmehr einen Weckruf für das sozialistische Lager hören,
das vor 150 Jahren wohl falsch abgebogen ist. Soll das
Abendroth‘sche Paradigma selbst nämlich realen Inhalt gewinnen,
so müsste die Linke, um es mit
Ja, Panik zu singen,
»dahin zurück, wo's nach vorne geht«:
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auf
den verlassenen Pfad, wo Sozialismus, Republikanismus und
Liberalismus zusammen ritten – und produktiv stritten.
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Für so einen Reset müsste aber der gordische Knoten, der
Kommune-Mythos, aufgelöst und seine Botschaft ins Gegenteil
verkehrt werden: Statt den Sozialismus weiter gegen die
Bürgerlichkeit zu wenden, bestünde die Aufgabe darin, ihre
Vermittlungsformen sozialistisch zu wenden. Doch was soll
überhaupt eine »soziale Demokratie« meinen, wenn nicht bloß eine
parlamentarische Mehrheit, die sozialistische Politik betreibt,
vielleicht hier und da etwas sozialisiert? Immerhin ist das
Soziale im herkömmlichen Parlamentarismus, der nur die
Allgemeinheit abbildet, nicht repräsentiert. Es wird nur grob
durch das Politische verwaltet. Auf die sozialen Probleme, die –
vor allem in Krisen – Bedürfnisse nach einem Ordnungswandel
hervorrufen, kann die Gesellschaft daher auch nur grob
antworten: etwa mit Forderungen nach mehr oder weniger
Autorität.
»Ein solcher Sozialrepublikanismus würde auf die Demokratisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche abzielen. So wie die Idee der Wirtschaftsdemokratie eine demokratische Verfassung im Bereich der Arbeit vorsah, ließen sich auch die Bereiche des Wohnens, des Verbrauchs und der Vorsorge republikanisieren.«
Wir meinen, dass diese Eindimensionalität erst dann durchbrochen
wird, wenn der republikanische Gedanke im Sozialen selbst
Anwendung findet. Dies käme einer neuen Art von
Verfassungsbewegung gleich, die nach der politischen auch die
soziale Ordnung konstitutionalisiert sehen will. Ein solcher
Sozialrepublikanismus würde auf die Demokratisierung
verschiedener Gesellschaftsbereiche abzielen, die damit einen
eigenen Überbau erhielten. So wie die Idee der
Wirtschaftsdemokratie eine demokratische Verfassung im Bereich
der Arbeit vorsah, ließen sich auch die Bereiche des Wohnens,
des Verbrauchs und der Vorsorge republikanisieren.
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Sie lassen sich als soziale Sphären fassen, die noch immer
feudal funktionieren und – analog zur Wirtschaftsdemokratie –
als Liegenschafts-, Konsum- und Wohlfahrtsdemokratie zu
verfassen sind. Kurz: als
soziale Demokratien.
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Und damit lassen sie sich auch als
Teilordnungen eines mehrdimensionalen Gemeinwesens denken: eine
Republik der sozialen Demokratien. Die sozialrepublikanische
Perspektive strebt insofern nach einer Demokratie im Plural, in
der die Dichotomie von vertikalen und horizontalen
Lösungsansätzen aufgelöst werden kann. Die Wahl besteht eben
nicht nur darin, repräsentative Demokratie zugunsten von mehr
Autorität oder mehr
Basisdemokratie
Basisdemokratie
Ein Begriff, der den Bock zum Gärtner macht
zu relativieren. Auch eine diagonale Lösung ist möglich: die
Vervielfältigung von repräsentativer Demokratie.