Irrwege des Sozialismus
Die Revolution als Verblendungszusammenhang
Im Konzept der funktionalen Demokratie findet sich nicht nur
eine Erweiterung des republikanischen Gedankens. Mit eben dieser
wird der Republikanismus gar in die Lage versetzt, als Scharnier
zwischen Liberalismus und Sozialismus zu fungieren. Tatsächlich
hatte der frühe Republikanismus zunächst sogar noch mehr an
einer eindimensionalen Demokratievorstellung gekrankt, als es
jene beiden Ideologien bis heute tun. Denn das Soziale und das
Politische verwob er in einer Weise, die nicht nur die
Gleichheit, sondern auch die Freiheit unterminierte. Bürger im
republikanischen Sinne war nämlich nur, wer die wirtschaftlichen
Voraussetzungen hatte. Nur, wer auch sozial sein eigener Herr
war,
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konnte den Bürgerstatus – etwa über das
Zensuswahlrecht – geltend machen.
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Diese
vormoderne, ja anti-universalistische Konzeption von
Gesellschaft machte den Republikanismus recht schnell
unattraktiv.
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Dagegen stand der Liberalismus
zumindest für ein universalistisches Prinzip im Politischen, das
durch eine modernere Funktionsteilung von Gesellschaft
ermöglicht wurde. Anders als der Republikanismus verortete er
das Ökonomische nicht innerhalb der Stadtmauern,
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sondern transzendierte solch territoriale Ordnungsvorstellungen
durch die Elaboration einer wirtschaftlichen Sphäre. Es ist
diese Trennung von Politischem und Ökonomischen, die
Karl Polanyi
Karl Polanyi
Jemand, der das Pferd vom Flur schieben wollte
als konstituierendes Element des modernen Kapitalismus
herausarbeitete.
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»Hatten sich die Mitglieder der Ersten Internationale noch als ›Bürger‹ angesprochen, behauptete sich spätestens mit der Pariser Kommune die Vorstellung, dass das Proletariat zur Aufhebung der Bürgerlichkeit, ja der politischen Sphäre schlechthin bestimmt sei.«
Insofern finden sich auch im Liberalismus Ansätze eines Denkens
in Sphären. Jedoch blieb darin die Demokratie dem Politischen
vorbehalten, bildete das Soziale also seine eigenen, feudalen
Ordnungen. Gegen diese Limitierung der aufklärerischen
Versprechen hatte sich der Sozialismus von Anfang an
gewendet.
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Denn die Arbeiter konnten so zwar
als rechtlich frei gelten, waren aber zugleich schutzlos
gegenüber den entfesselten Marktkräften.
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Fatalerweise reagierte der sozialistische Mainstream des 19.
Jahrhunderts darauf mit einer neuen Engführung: Man erklärte
kurzerhand die wirtschaftliche Sphäre zur Mutter aller Ordnung.
Ausgehend vom saint-simonistischen Wahlspruch, wonach die
»Verwaltung der Dinge« an die Stelle des Regierens treten
sollte,
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setzte sich dabei zunehmend die
Vorstellung durch, dass die Politik im Wirtschaftsbetrieb
aufgehen würde.
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Mehr noch: Sie entwickelte
sich zu einem regelrechten Heilsversprechen des Sozialismus, das
sich schon fast antithetisch zum republikanischen Erbe der
frühen Arbeiterbewegung
Frühe Arbeiterbewegung
Ein Diskurszusammenhang, dessen Ideen zermatscht wurden
verhielt. Hatten sich die Mitglieder der Ersten Internationale
noch als »Bürger« angesprochen,
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behauptete
sich spätestens mit der Pariser Kommune die Vorstellung, dass
das Proletariat – an sich und für sich – zur Aufhebung der
Bürgerlichkeit, ja der politischen Sphäre schlechthin bestimmt
sei. Die Eindimensionalität des frühen Republikanismus ersetzte
man so bloß durch eine alternative Eindimensionalität.
Tatsächlich folgten sogar beide großen Strömungen des
Sozialismus der produktivistischen Verengung. Sowohl Marxismus
als auch Anarchismus – zuweilen als »feindliche Brüder«
bezeichnet –,
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begegneten der sphärischen
Öffnung durch den Liberalismus mit einer sphärischen Schließung.
Wenngleich sie diese auch recht unterschiedlich ausdeuteten. So
postulierte schon das
Kommunistische Manifest,
Kommunistisches Manifest
Etwas, das sich selbst zu Tode erschreckt hat
dass mit der Neuordnung der Produktionsverhältnisse durch den
revolutionären Staat auch die öffentliche Gewalt – also eben
jener Staat, den das »organisierte Proletariat« erobert habe –
ihren politischen Charakter verlieren würde.
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Dieser Glaube förderte in den verschiedenen Spielarten der
marxistischen Politik eine naive, mitunter verantwortungslose
Denkart, die sich wenig um Probleme der Gewaltenteilung und
Machtkonzentration kümmerte.
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Die Geschichte
auf der eigenen Seite meinend, war der Marxismus tatsächlich
häufig sehr rechtfertigungsfaul in der Frage, wie zwischen
pluralen Weltsichten zu vermitteln und politische Widersprüche
zu verhandeln seien: Probleme, die doch selbst in einer
»klassenlosen« Gesellschaft bestehen dürften.
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Entsprechend dürftig, um nicht zu sagen vulgär war denn auch das
Niveau seiner Revolutionstheorie.
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Denn im
Grunde erschöpfte sie sich, wie
Karl Korsch
Karl Korsch
Jemand, der das Positive im Sozialismus vermisste
treffend feststellte, darin, die »negative« Seite des
Sozialismus zu behandeln: den abzuschaffenden
Kapitalismus.
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Was ja doch recht simpel ist.
Insofern hatte die Prämisse, alles Bürgerliche sei aufzuheben,
ja würde ohnehin aufgehoben, der marxistischen
Revolutionstheorie den Boden entzogen. Denn zusammen mit dem
Glauben an die zweite, proletarische Revolution war unter
Marxisten eine quasi-religiöse Disposition gegeben. Mit ihr
wurde die Frage zweitrangig, auf welchen Vermittlungsformen der
Sozialismus überhaupt aufbauen kann.
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Welche
Organisationsformen welche Institutionen und welche
Institutionen welche Ordnung hervorbringen, das waren
Leerstellen im
wissenschaftlichen Sozialismus,
Wissenschaftlicher Sozialismus
Ein Begriff, den man so nicht stehen lassen kann
der sich häufig vorwissenschaftlich verhielt.
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So machte das Vakuum an evidenzbasierten Transformationsdebatten
denn auch blind dafür, dass die eigene Praxis den
sozialistischen Zweck verfehlt. Den reformistischen Marxismus
führte dies zur Integration in die herrschende Ordnung,
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den revolutionären Marxismus zu ihrer Überformung:
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Ersterer strebte die Eroberung der politischen Macht auf
demokratischem Wege an, um die Befreiung der Arbeit zu
organisieren – versandete aber in den Institutionen des
Parlamentarismus.
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Letzterer hingegen setzte
auf die unmittelbare Machteroberung, um jene Befreiung zu
dekretieren. Tatsächlich aber schuf er eine neue
Klassengesellschaft mit absolutistischen Zügen,
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als er die politische und die ökonomische Sphäre wieder in Eins
setzte – unter Ausschluss der Demokratie. Die Versprechen der
Französischen Revolution, sie wurden in diesem
»Staatskapitalismus« komplett kassiert.
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»Hatte der frühe Anarchismus noch eine alternative Staatlichkeit im Sinn, entwickelte er im Streit um die Erste Internationale, also in Abgrenzung zum Marxismus, einen zunehmend anti-staatlichen und anti-autoritären Glauben, der seiner Revolutionstheorie den Boden entzog.«
Der Anarchismus hingegen erkannte sowohl das Problem der
Ordnungsintegration als auch das der Ordnungsfiguration: Ohne
alternative Institutionen lässt sich ebenso wenig ein
Funktionswandel im Ordnungsgefüge bewirken wie sich mit
autoritären Organisationsformen eine freie Gesellschaft
figurieren lässt. Das anarchistische Wirken war daher stets
darauf ausgerichtet, eigene Vermittlungsformen zu schaffen, mit
denen sich die Lücke zwischen Gegenwart und Zukunft schließen
lassen könnte.
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Gemäß der »Embryo-Theorie«
sollte so, etwa durch soziale beziehungsweise gewerkschaftliche
Organisationen, »die neue Welt in der Schale der alten«
aufgebaut werden.
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Tatsächlich vermied man
mit dieser
präfigurativen Politik
Präfigurative Politik
Ein Ansatz, der ohne Gegengewicht zum Selbstzweck wird
– einer Art Sozialismus »von unten« – das sozialdemokratische
Schicksal, die herrschende Ordnung zu co-reproduzieren.
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Und ebenso schufen Anarchisten keine Tyranneien, die sie dem
Marxismus mit seinem rustikalen Revolutionsverständnis – also
einer sozialen Transformation durch politisch dirigierte
Umverteilung – stets vorhergesagt hatten. Dafür liefen sie aber
in andere Probleme, die ihren Sozialismus historisch scheitern
ließen. Hatte der frühe Anarchismus nämlich durchaus noch eine
alternative Staatlichkeit im Sinn,
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entwickelte er im Streit um die Erste Internationale, also in
Abgrenzung zum Marxismus, einen zunehmend anti-staatlichen und
anti-autoritären Glauben, der seiner Revolutionstheorie
ebenfalls den Boden entzog.
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Zwar setzte der Anarchismus der marxistischen Heilserwartung
aktive Keimformpraxen entgegen. Doch ähnlich dem Marxismus, der
eine Sprengung der »kapitalistischen Hülle« erwartete,
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stellte man sich die alte Welt als abzustoßende Schale vor. In
der vulgärsten Auslegung entstand daraus eine
Institutionenfeindlichkeit, die in allen vertikalen Elementen
der Organisierung gleich die Reproduktion von Herrschaft
sah.
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Diesem Teil des Anarchismus blieben fast nur militante Aktionen,
um einen spontanen Aufstand zu provozieren. Praktisch hatte
dieser
Insurrektionalismus
Insurrektionalismus
Eine Strömung, die Tohuwabohu mit Aufstand verwechselte
den Massen nichts zu bieten; er verlor sich denn auch in
individueller Gewalt.
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Der Massenanarchismus
fand daher vor allem im Syndikalismus Ausdruck, der mit seinen
Gewerkschaften und halbwegs straffen Strukturen große Teile der
Arbeiterschaft mobilisieren konnte.
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Jedoch
hatte auch er das republikanische Erbe der frühen
Arbeiterbewegung wenn nicht vergessen, so aber doch schlecht
gewendet. Denn auch er war der produktivistischen Verengung
verfallen: Die republikanischen Prinzipien sollten nämlich nur
im Wirtschaftlichen gelten; der bürgerliche Staat sei hingegen
aufzuheben. Aller Aufbauarbeit zum Trotz, der Übergang zu einer
neuen Gesellschaft blieb so nur als radikaler Ordnungsbruch
denkbar: als Revolution.
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Und da zogen die
Massenanarchisten stets den Kürzeren gegen Kräfte, die
autoritärer organisiert waren – ob nun der Staat oder die
politische Konkurrenz.
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