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IV.

Irrwege des Sozialismus

Die Revolution als Verblendungszusammenhang
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Im Konzept der funktionalen Demokratie findet sich nicht nur eine Erweiterung des republikanischen Gedankens. Mit eben dieser wird der Republikanismus gar in die Lage versetzt, als Scharnier zwischen Liberalismus und Sozialismus zu fungieren. Tatsächlich hatte der frühe Republikanismus zunächst sogar noch mehr an einer eindimensionalen Demokratievorstellung gekrankt, als es jene beiden Ideologien bis heute tun. Denn das Soziale und das Politische verwob er in einer Weise, die nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Freiheit unterminierte. Bürger im republikanischen Sinne war nämlich nur, wer die wirtschaftlichen Voraussetzungen hatte. Nur, wer auch sozial sein eigener Herr war, 1 Zur Definition des stimmfähigen Bürgers als sui iuris siehe Immanuel Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793), in: ders., Gesammelte Schriften, Abt. 1, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781 (Berlin: Königl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften, 1923), S. 273–313, hier: S. 295. konnte den Bürgerstatus – etwa über das Zensuswahlrecht – geltend machen. 2 Das Argument derjenigen, die zu dieser Zeit gegen das allg. Wahlrecht auftraten, basierte auf einem Kerngedanken, der einem späteren Allgemeinplatz der Arbeiterbewegung nicht unähnlich ist: Wer sozial einem anderen Menschen zu Diensten steht, könne nicht wirklich als frei erachtet werden. So war das Zensuswahlrecht als polit. Exklusionsmechanismus u.a. mit der Befürchtung begründet worden, dass die Stimme der Lohnabhängigen potentiell als Proxy-Stimme ihrer Arbeitgeber genutzt werde; siehe Gourevitch, S. 76–77. Insofern adaptierte und universalisierte die Arbeiterbewegung in gewisser Weise die Position des klassischen Republikanismus, wonach das Funktionieren der polit. Demokratie nicht von Eigentumsanforderungen zu trennen sei. Diese vormoderne, ja antiuniversalistische Konzeption von Gesellschaft machte den Republikanismus recht schnell unattraktiv. 3 In ihrer klassischen Form setzte republik. Freiheit sogar die Existenz von Unfreien voraus. Nur die Etablierung von Sklavenhaltergesellschaften habe in der Antike die Schaffung von Republiken freier, unabhängiger Bürger möglich gemacht, so eine These der Alten Geschichte. Siehe Moses Finley, Die Sklaverei in der Antike. Geschichte und Probleme (München: Beck, 1981). Dagegen stand der Liberalismus zumindest für ein universalistisches Prinzip im Politischen, das durch eine modernere Funktionsteilung von Gesellschaft ermöglicht wurde. Anders als der Republikanismus verortete er das Ökonomische nicht innerhalb der Stadtmauern, 4 Vgl. Richard Bellamy, »Republikanismus, Rechte und Demokratie«, in: Thiel & Volk, S. 17–44, hier: S. 30. sondern transzendierte solch territoriale Ordnungsvorstellungen durch die Elaboration einer wirtschaftlichen Sphäre. Es ist diese Trennung von Politischem und Ökonomischen, die Karl Polanyi Karl Polanyi
Jemand, der das Pferd vom Flur schieben wollte
als konstituierendes Element des modernen Kapitalismus herausarbeitete. 5 Siehe dazu Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014 [1944]), S. 88–89 u. 105–106.

»Hatten sich die Mitglieder der Ersten Internationale noch als ›Bürger‹ angesprochen, behauptete sich spätestens mit der Pariser Kommune die Vorstellung, dass das Proletariat zur Aufhebung der Bürgerlichkeit, ja der politischen Sphäre schlechthin bestimmt sei.«

Insofern finden sich auch im Liberalismus Ansätze eines Denkens in Sphären. Jedoch blieb darin die Demokratie dem Politischen vorbehalten, bildete das Soziale also seine eigenen, feudalen Ordnungen. Gegen diese Limitierung der aufklärerischen Versprechen hatte sich der Sozialismus von Anfang an gewendet. 6 Wegweisend in dieser Hinsicht war das 1796 von François Noël Babeuf (genannt: Gracchus Babeuf) verfasste Manifest der Gleichen, das als eines der Gründungsdokumente des Sozialismus gilt. Babeuf, der aktiv an der Franz. Revolution von 1789ff. beteiligt war, beklagt darin jenes uneingelöste Versprechen der Revolution, das für die Konstituierung des Sozialismus wesentlich wurde: die Gleichheit. Sein fiktiver Dialog liest sich wie eine Anklage an den Liberalismus: »Schweigt, Elende! Die faktische Gleichheit ist nur ein Hirngespinst. Begnügt euch mit der bedingten Freiheit: ihr seid alle gleich vor dem Gesetz. Kanaille, was willst du noch mehr?«; Gracchus Babeuf, »Das Manifest der Gleichen« (1796), in: ders., Die Verschwörung für die Gleichheit. Rede über die Legitimität des Widerstands, hgg. v. John Anthony Scott (Hamburg: Junius, 1988), S. 103–108. Die Arbeiterbewegung wandte sich gegen die Limitierung der Freiheit auf die politische Sphäre, indem sie das aufklärerische Prinzip der persönlichen Unabhängigkeit des Individuums auf die Sozialbeziehungen zu übertragen suchte: eine von Handwerkerstolz und Selbstachtung getragene Vision von »kollektiver Unabhängigkeit« beseelte die frühen Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegungen der 1830er Jahre. Siehe Felix Zimmermann, »Sie wollen uns zu Maschinen machen! Zu den Ursprüngen und Hintergründen des Widerstandes gegen das Lohnsystem«, in: Direkte Aktion, Nr. 207, Jg. 34 (2011), S. 8 (online hier). Denn die Arbeiter konnten so zwar als rechtlich frei gelten, waren aber zugleich schutzlos gegenüber den entfesselten Marktkräften. 7 Die Einordnung der Lohnarbeit in die Kategorien von Freiheit und Unfreiheit war durchaus eine sprachliche Herausforderung. Nebeneinander standen der vom Republikanismus inspirierte Begriff der »Lohnsklaverei« und die im Marxismus aufkommende Rede vom »doppelt freien Lohnarbeiter«. Zu diesem Spannungsverhältnis siehe Felix Zimmermann, »Als die Lohnarbeit ›frei‹ wurde. Zum Verständnis der ›freien Arbeit‹ bei republikanischen und marxistischen Achtundvierzigern in den USA«, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, Nr. 1, Jg. 18 (2019), S. 94–110. Fatalerweise reagierte der sozialistische Mainstream des 19. Jahrhunderts darauf mit einer neuen Engführung: Man erklärte kurzerhand die wirtschaftliche Sphäre zur Mutter aller Ordnung. Ausgehend vom saint-simonistischen Wahlspruch, wonach die »Verwaltung der Dinge« an die Stelle des Regierens treten sollte, 8 Zu den Überlegungen des Frühsozialisten Henri de Saint-Simon siehe grundlegend Rolf Peter Fehlbaum, Saint-Simon und die Saint-Simonisten. Vom Laissez-faire zur Wirtschaftsplanung (Basel: Kyklos, 1970); speziell zu seiner technokratischen Perspektive einer »Verwaltung von Sachen«, in der Engels spätere These vom »Absterben des Staates« vorweggenommen ist, siehe insbes. S. 57–61. Engels breitete diese Vorstellung vom Staat, der nach dem vermeintlichen Wegfall seiner einstigen Funktionen überflüssig werde, schließlich im sog. Anti-Dühring vor einer breiten Öffentlichkeit aus; siehe Friedrich Engels, »Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft« (1878), in: Marx & Engels, MEW, Bd. 20 (Ost-Berlin: Dietz, 1962), S. 239–303, hier: S. 262. setzte sich dabei zunehmend die Vorstellung durch, dass die Politik im Wirtschaftsbetrieb aufgehen würde. 9 So stützte sich z.B. auch Lenin auf die technokratisch anmutende Prophezeiung, dass sich der polit. Staat im Kommunismus auf die profanen Aufgaben der »Rechnungsführung und Kontrolle« reduzieren ließe; Wladimir Iljitsch Lenin, »Staat und Revolution« (1917), in: ders.: Werke, Bd. 25 (Ost-Berlin: Dietz, 1974), S. 393–507, hier: S. 487–488. Für die Rätetheoretiker argumentierte in diese Richtung prominent Pannekoek: »Unter der Räteorganisation ist die politische Demokratie verschwunden, da die Politik selbst verschwunden und im gesellschaftlichen Wirtschaftsbetrieb aufgegangen ist«; Pannekoek, S. 70. Mehr noch: Sie entwickelte sich zu einem regelrechten Heilsversprechen des Sozialismus, das sich schon fast antithetisch zum republikanischen Erbe der frühen Arbeiterbewegung Frühe Arbeiterbewegung
Ein Diskurszusammenhang, dessen Ideen zermatscht wurden
verhielt. Hatten sich die Mitglieder der Ersten Internationale noch als »Bürger« angesprochen, 10 Siehe Herbert Bartholmes, Bruder, Bürger, Freund, Genosse und andere Wörter der sozialistischen Terminologie (Wuppertal: Hammer, 1970), S. 96–102. behauptete sich spätestens mit der Pariser Kommune die Vorstellung, dass das Proletariat – an sich und für sich – zur Aufhebung der Bürgerlichkeit, ja der politischen Sphäre schlechthin bestimmt sei. Die Eindimensionalität des frühen Republikanismus ersetzte man so bloß durch eine alternative Eindimensionalität.

Tatsächlich folgten sogar beide großen Strömungen des Sozialismus der produktivistischen Verengung. Sowohl Marxismus als auch Anarchismus – zuweilen als »feindliche Brüder« bezeichnet –, 11 Siehe dazu unbedingt Petra Weber, Sozialismus als Kulturbewegung: Frühsozialistische Arbeiterbewegung und das Entstehen zweier feindlicher Brüder: Marxismus und Anarchismus (Düsseldorf: Droste, 1989). begegneten der sphärischen Öffnung durch den Liberalismus mit einer sphärischen Schließung. Wenngleich sie diese auch recht unterschiedlich ausdeuteten. So postulierte schon das Kommunistische Manifest, Kommunistisches Manifest
Etwas, das sich selbst zu Tode erschreckt hat
dass mit der Neuordnung der Produktionsverhältnisse durch den revolutionären Staat auch die öffentliche Gewalt – also eben jener Staat, den das »organisierte Proletariat« erobert habe – ihren politischen Charakter verlieren würde. 12 Die polit. Gewalt »im eigentlichen Sinne« sei ja die organisierte Gewalt der einen Klasse zur Unterdrückung der anderen, konstatierte das Manifest; siehe Marx & Engels, »Manifest«, S. 482. Dieser Glaube förderte in den verschiedenen Spielarten der marxistischen Politik eine naive, mitunter verantwortungslose Denkart, die sich wenig um Probleme der Gewaltenteilung und Machtkonzentration kümmerte. 13 Für ein Potpourri an marxist. Argumenten gegen die Gewaltenteilung siehe z.B. den Überblick von Alex Demirović, »Rätedemokratie oder das Ende der Politik«, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 155, Jg. 39 (2009), S. 181–206, hier: S. 191–193. Generell galt im Marxismus die Gewaltenteilung als ein Organisationsprinzip des bürgerl. Staats, das in Wirklichkeit keine Macht beschränke, sondern der Macht der Bourgeoisie nur den trügerischen Schleier von Legitimität verleihe. In der DDR war diese Position zur Parteidoktrin erhoben: Der sozialist. Staat kenne keine Gewaltenteilung, da die Souveränität des Volkes in der Einheit der Staatsgewalt ihren Ausdruck finde; so in Blei gegossen bei: Waltraud Böhme (Hg.), Kleines politisches Wörterbuch (Ost-Berlin: Dietz, 1978), S. 321. Der bürgerl.-prolet. Dualismus trug natürlich auch hier wieder zur Gewissheit bei, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die Geschichte auf der eigenen Seite meinend, war der Marxismus tatsächlich häufig sehr rechtfertigungsfaul in der Frage, wie zwischen pluralen Weltsichten zu vermitteln und politische Widersprüche zu verhandeln seien: Probleme, die doch selbst in einer »klassenlosen« Gesellschaft bestehen dürften. 14 Gegen das im Marxismus kolportierte Ende der Geschichte argumentierte Abendroth, dass von einer klassenlosen Gesellschaft keineswegs das widerspruchsfreie Paradies erwartet werden kann, sondern bestenfalls die Abwehr der Katastrophen, die aus der gegenwärtigen Gesellschaftsformation folgen (was ja nicht wenig wäre). Mit Marx und Engels selbst wollte er das untermauert wissen. Diese hätten immer betont, dass nicht ein Ende der Geschichte ins Haus stehe, sondern der Sprung in eine neue Geschichte; Wolfgang Abendroth, »Ist der Marxismus ›überholt‹?« (1958), in: ders., Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie (Neuwied u.a.: Luchterhand, 1967), S. 347—363, hier: S. 362–363. Wie jedoch Camus richtig beobachtete, bedeutet ein solcher Sprung immer noch das Ende einer, der diesseitigen Geschichte. Es verlagert das Denken auf einen zukünftigen Übergang ins Jenseits, dem Garten Eden gleich. Und ist damit eine Steilvorlage für Terror und Willkür im Namen dieses Ziels. Siehe Albert Camus, Der Mensch in der Revolte (Reinbek b.H.: Rowohlt, 1969 [1951]), S. 181–184. Entsprechend dürftig, um nicht zu sagen vulgär war denn auch das Niveau seiner Revolutionstheorie. 15 Es ist an dem Verdikt Pierre Ramus‘ doch einiges dran, dass bei den Marxisten ziemliche Unklarheit über die Methoden des gesellschaftl. Wandels bestehe. Die vielen »schillernden Phrasen« und das »Wortgebimmel« haben diese gravierende Leerstelle lange überdeckt; siehe Pierre Ramus, Die Irrlehre des Marxismus im Bereich des Sozialismus und Proletariats (Wien & Leipzig: Löwit, 1927), S. 66–77; zunächst 1919 erschienen und 1927 neu bearbeitet. Bis heute besteht die Attraktivität des Marxismus ja v.a. darin, dass er auf komplexe Probleme eine vermeintlich komplexe Antwort gibt. Wie auch bei den szientistisch verargumentierten Formen der Identitätspolitik heute (dazu später mehr) handelt es sich aber v.a. um einen konzeptionellen Baukasten, mit dem sich relativ einfach eine distinguierte Identität anlegen lässt, ohne die Welt selbst durchdringen zu müssen. Siehe auch Fn. IV.18. Denn im Grunde erschöpfte sie sich, wie Karl Korsch Karl Korsch
Jemand, der das Positive im Sozialismus vermisste
treffend feststellte, darin, die »negative« Seite des Sozialismus zu behandeln: den abzuschaffenden Kapitalismus. 16 Siehe Karl Korsch. »Die sozialistische Formel für die Organisation der Volkswirtschaft«, in: Die Tat, Nr. 9, Jg. 4 (1912), S. 507–509. Was ja doch recht simpel ist.

Insofern hatte die Prämisse, alles Bürgerliche sei aufzuheben, ja würde ohnehin aufgehoben, der marxistischen Revolutionstheorie den Boden entzogen. Denn zusammen mit dem Glauben an die zweite, proletarische Revolution war unter Marxisten eine quasi-religiöse Disposition gegeben. Mit ihr wurde die Frage zweitrangig, auf welchen Vermittlungsformen der Sozialismus überhaupt aufbauen kann. 17 Bei der Mehrzahl der marxist. Wortführer war die Frage nach positiven Konzepten des Aufbaus nicht nur zweitrangig, sondern geradezu tabuisiert. So wurde jegliches Bemühen um die Klärung dieser Probleme als vermeintlicher Rückfall in den vormarxist. Utopismus interpretiert. Der Übergang in die neue Welt wurde da durchaus als Automatismus gedacht, während diejenigen, die ihn als schöpferischen Prozess begriffen, am Rande der Bewegung standen. Siehe Karl Korsch, »Grundsätzliches über Sozialisierung« (1920), in: ders.: Schriften zur Sozialisierung, hgg. v. Erich Gerlach (Frankfurt a.M.: Europ. Verlagsanstalt, 1969), S. 69–82, hier: S. 72–74. Wie Bini Adamczak richtig anmerkt, hat dieses Denk- bzw. »Bilderverbot«, anders als es vorgab, nicht etwa einen Autoritarismus verhütet, der durch die Utopie motiviert sei. Vielmehr hat ja gerade der anti-utopische, der »wissenschaftliche« Sozialismus die autoritärsten Formen des Sozialismus hervorgebracht. Siehe Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (Berlin: Suhrkamp, 2017), S. 92–97. Welche Organisationsformen welche Institutionen und welche Institutionen welche Ordnung hervorbringen, das waren Leerstellen im wissenschaftlichen Sozialismus, Wissenschaftlicher Sozialismus
Ein Begriff, den man so nicht stehen lassen kann
der sich häufig vorwissenschaftlich verhielt. 18 Franz Barwich hob diesen Aspekt besonders in seiner Zusammenfassung von Ramus (siehe Fn. IV.15) hervor; siehe Franz Barwich & Pierre Ramus, Die Irrlehre und Wissenschaftslosigkeit des Marxismus. Volkstümlich bearbeitet nach dem Buch gleichen Namens unseres Geistesfreundes Pierre Ramus (Berlin: Kater, 1920). Knapp ein Jh. später, wo das sozial-, kultur- und geisteswissenschaftl. Wissen über Prozesse der soz. Veränderung noch weiter aufgefächert ist, könnte man noch ergänzen, dass es charakteristisch für Marxisten ist, viele Aspekte der Sozialanalyse zugunsten des Ökonomischen zu vernachlässigen. Der marxist. »Durchblick« ist ja vielmehr ein Tunnelblick, bei dem ein Bereich besonders durchleuchtet, andere Bereich dafür aber ausgeblendet werden. Es folgt daraus ein Unvermögen, das Spezialwissen in den breiteren Wissenskomplex einzuordnen: eine Art Fachidiotie. So machte das Vakuum an evidenzbasierten Transformationsdebatten denn auch blind dafür, dass die eigene Praxis den sozialistischen Zweck verfehlt. Den reformistischen Marxismus führte dies zur Integration in die herrschende Ordnung, 19 Symptomatisch dafür Obersozi August Bebel: »Über die Organisation, die dann geschaffen wird, zu reden, ist ganz überflüssig«; August Bebel, Zukunftsstaat und Sozialdemokratie. Eine Rede des Reichstagsabgeordneten August Bebel in der Sitzung des deutschen Reichstags vom 3. Februar 1893 (Berlin: Vorwärts, 1893), S. 15. Bei diesem Denkverbot (siehe Fn. IV.17) überrascht es nicht, dass die Gesellschaft nicht in den Sozialismus »hineinwuchs«, wie es die SPD propagierte. Vielmehr wurde diese selbst zu einer »bis zur Komik getreue[n] Volksausgabe des Staates, in dem sie lebt«; so Kurt Eisner, zitiert bei: Hans-Josef Steinberg, »Die deutsche Sozialdemokratie nach dem Fall des Sozialistengesetzes. Ideologie und Taktik sozialistischen Massenpartei im Wilhelminischen Reich«, in: Hans Mommsen (Hg.), Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung und Volkspartei (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1974), S. 52–61. den revolutionären Marxismus zu ihrer Überformung: 20 Gerade der Marxismus stand ja für ein »bedingungsloses Festhalten an den Formen der bürgerlichen Revolution«; Karl Korsch, »Zehn Thesen über Marxismus heute« (1950), in: ders., Politische Texte, hgg. v. Erich Gerlach & Jürgen Seifert (Frankfurt a.M.: EVA, 1971), S. 385–387, hier: S. 385. Vgl. dazu auch Horst Stuke, Einleitung zu: Michail Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie – und andere Schriften (Frankfurt a.M., Berlin & Wien: Ullstein, 1972), S. VII-XXI. Statt den Staat durch neue Institutionen in einen Funktionswandel zu treiben, setzte man auf die Eroberung desselbigen, um ihm auch die Ökonomie zu unterwerfen. Die zweite, prolet. Revolution war daher auch keine Sprengung dessen, was Marxisten als Hülle des Kapitalismus betrachteten, sondern deren Aufblasen. Siehe auch Fn. IV.27. Ersterer strebte die Eroberung der politischen Macht auf demokratischem Wege an, um die Befreiung der Arbeit zu organisieren – versandete aber in den Institutionen des Parlamentarismus. 21 Das heißt nicht, dass es etwa in der Sozialdemokratie keine alternativen Ansätze gab. Zum einen wurde gerade im sozialdemokrat. Segment der Gewerkschaften auch über transformatorische Konzepte wie etwa die Wirtschaftsdemokratie diskutiert; siehe Fn. II.14. Zum anderen ist da auch die prakt. Partnerschaft mit Gewerkschaften (und auch Genossenschaften), wenngleich diese als soz. wie auch transnat. Bewegungen begannen und durch die Sozialdemokratie auf kurzfristige, nationale Belange zurechtgestutzt wurden. Derart entpolitisiert, verloren v.a. die Gewerkschaften ihr Potential als demokrat. Ordnungskraft, die soz. Fehlkonstruktionen und -entwicklungen politisch entgegenwirkt. Vgl. dazu auch Hans-Ulrich Wehler, Sozialdemokratie und Sozialstaat. Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage in Deutschland – von Karl Marx bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Würzburg: Holzner, 1962); sowie Hannes Herr, Burgfrieden oder Klassenkampf. Zur Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaften 1930–1933 (Berlin & Neuwied: Luchterhand, 1971).     Letzterer hingegen setzte auf die unmittelbare Machteroberung, um jene Befreiung zu dekretieren. Tatsächlich aber schuf er eine neue Klassengesellschaft mit absolutistischen Zügen, 22 Zum absolutist. Charakter siehe Rudolf Rocker, Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus (Darmstadt: Freie Gesellschaft, 1950); zur neuen Klassenstruktur siehe Volin, La Révolution inconnue (Paris: Amis des Volin, 1947), insbes. Buch 2, Teil 8. als er die politische und die ökonomische Sphäre wieder in Eins setzte – unter Ausschluss der Demokratie. Die Versprechen der Französischen Revolution, sie wurden in diesem »Staatskapitalismus« komplett kassiert. 23 Mit dem Begriff waren Ende des 19. Jh. zunächst verstaatl. Unternehmen im Kapitalismus gemeint. Während manche Sozialisten darin eine Vorstufe des Staatsozialismus sahen, kritisierten andere die Fusion von polit. und ökonom. Macht. Siehe generell Gerold Ambrosius, Zur Geschichte des Begriffs und der Theorie des Staatskapitalismus und des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Tübingen: Mohr, 1981). Die Anwendung des Begriffs auf die Sowjetrealität wird meist mit Friedrich Pollock verbunden, der den Staatsozialismus als Form des Staatskapitalismus analysierte; siehe Friedrich Pollock, »State Capitalism. Its Possibilities and Limitations«, in: Studies in Philosophy and Social Science, Nr. 2, Jg. 9 (1941), S. 200–225. Tatsächlich wurde der Begriff so schon länger im Syndikalismus benutzt; siehe z.B. Rudolf Rocker, Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus (Berlin: Der Syndikalist, 1920), S. 3.

»Hatte der frühe Anarchismus noch eine alternative Staatlichkeit im Sinn, entwickelte er im Streit um die Erste Internationale, also in Abgrenzung zum Marxismus, einen zunehmend antistaatlichen und antiautoritären Glauben, der seiner Revolutionstheorie den Boden entzog.«

Der Anarchismus hingegen erkannte sowohl das Problem der Ordnungsintegration als auch das der Ordnungsfiguration: Ohne alternative Institutionen lässt sich ebenso wenig ein Funktionswandel im Ordnungsgefüge bewirken wie sich mit autoritären Organisationsformen eine freie Gesellschaft figurieren lässt. Das anarchistische Wirken war daher stets darauf ausgerichtet, eigene Vermittlungsformen zu schaffen, mit denen sich die Lücke zwischen Gegenwart und Zukunft schließen lassen könnte. 24 Die Rationalität, dass die neue Gesellschaft durch Keimzellen in der Gegenwart vorwegzunehmen sei, war zentral in der Abgrenzung des Anarchismus vom Marxismus. Indessen diskutieren auch (post-)marxist. Denker solche Ansätze, z.B. unter dem Label einer angeblich neuen »Keimformtheorie« – also ohne deren 150-jährige Tradition zu würdigen. Siehe Simon Sutterlütti & Stefan Meretz, Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken (Hamburg: VSA, 2018). Vgl. auch Erik Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus (Berlin: Suhrkamp, 2017). Für eine Kritik siehe Holger Marcks, »Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 1). Syndikalistische Transformationspolitik: Die Vermittlung zwischen Realität und Utopie«, auf: Direkte Aktion, 3. Sept. 2018 (online hier). Gemäß der »Embryo-Theorie« sollte so, etwa durch soziale beziehungsweise gewerkschaftliche Organisationen, »die neue Welt in der Schale der alten« aufgebaut werden. 25 Diese Losung wurde durch die IWW, eine syndikalist. Organisation in den USA, berühmt gemacht, die sie 1908 in die Präambel ihrer Statuten aufnahmen; siehe Paul Frederick Brissenden, The IWW. A Study of American Syndicalism (New York: Columbia Univ. Press, 1919), S. 110. Die Embryo-Theorie bzw. -Hypothese wiederum meint primär die Vorstellung, dass revolut. Gewerkschaften die Keimform einer neuen Gesellschaft seien. Von manchen Anarchisten wurde sie aber auch so ausgelegt, dass andere Vermittlungsformen als gewerkschaftliche diese Funktion erfüllen müssten; siehe Max Nettlau, A Short History of Anarchism, hgg. v. Heiner Becker (London: Freedom Press, 1996 [Manuskript v. 1932]), S. 270–272 u. 278–280. Tatsächlich vermied man mit dieser präfigurativen Politik Präfigurative Politik
Ein Ansatz, der ohne Gegengewicht zum Selbstzweck wird
– einer Art Sozialismus »von unten« – das sozialdemokratische Schicksal, die herrschende Ordnung zu co-reproduzieren. 26 Der Begriff – im Prinzip ein Synonym für Keimformpraxen – erfreut sich heute einer gewissen Beliebtheit auch in (post-)marxist. Diskursen. Eingeführt wurde er 1977 von Carl Boggs, der zumindest anerkennt, dass dieser Ansatz auf den Anarchismus zurückzuführen ist und vom Marxismus bekämpft wurde; siehe Carl Boggs, »Marxism, Prefigurative Communism, and the Problem of Workers’ Control«, in: Radical America, Nr. 6, Jg. 11 (1977), S. 99–122. Zur Co-Reproduktion der herrschenden Ordnung siehe Fn. IV.17–19. Und ebenso schufen Anarchisten keine Tyranneien, die sie dem Marxismus mit seinem rustikalen Revolutionsverständnis – also einer sozialen Transformation durch politisch dirigierte Umverteilung – stets vorhergesagt hatten. Dafür liefen sie aber in andere Probleme, die ihren Sozialismus historisch scheitern ließen. Hatte der frühe Anarchismus nämlich durchaus noch eine alternative Staatlichkeit im Sinn, 27 Wobei hier auch die histor. Relativität von Begriffen mitzudenken ist: Vergegenwärtigt man sich z.B., dass selbst Staatsfeind Nummer Eins, Oberanarcho Bakunin, sich Parlamente und Gerichte für die freie Gesellschaft ausmalte (siehe Michail Bakunin, »Prinzipien und Organisation einer internationalen revolutionär-sozialistischen Geheimgesellschaft« [1866], in: ders., Staatlichkeit, S. 3–64), dann lässt sich erahnen, dass die anarchist. Theoretiker einen anderen Staatsbegriff hatten, als ihn ihre heutigen Epigonen auf die Gegenwart zurückspiegeln. Tatsächlich hatte Bakunin, der in der Revolutionswelle von 1848/49 geprägt wurde, v.a. einen autoritären Zentralstaat in einem (semi-)feudalen Kontext vor Augen, der über kaum bis gar keine demokr. Legitimation verfügt. Vgl. dazu generell Michail Bakunin, »Staatlichkeit und Anarchie« (1873), in: ders., Staatlichkeit. Auf die Destruktion solch »autoritärer politischer Staaten« – zugunsten einer »republikanischen« Grundordnung – zielte denn auch seine in der IAA aufgehende Organisation: die Allianz der Sozialistischen Demokratie; siehe Michael Bakunin, »Programm der Internationalen Allianz der Sozialistischen Demokratie«, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 5 (Konflikt mit Marx. Teil 1: Texte und Briefe bis 1870), hgg. v. Wolfgang Eckhardt (Berlin: Kramer, 2004), S. 163–164. Vgl. auch Fn. III.27–28. entwickelte er im Streit um die Erste Internationale, also in Abgrenzung zum Marxismus, einen zunehmend anti-staatlichen und anti-autoritären Glauben, der seiner Revolutionstheorie ebenfalls den Boden entzog. 28 Der Frühanarchismus in der IAA formierte sich weniger um eine anti-autoritäre Identität, wie sie später auf jenen Flügel der Internationale projiziert wurde, als über eine föderale und gewerkschaftliche. So standen der Generalrat an sich wie auch seine Befugnisse nicht wirklich zur Debatte, als der Streit mit Marx begann. Vielmehr ging es dabei um die Verteidigung der IAA-Verfassung gegen einen – so muss man es nennen – Putsch von Marx, der eine autokratische Selbstermächtigung des Rats betrieb. Erst nach der Abwehr des Putsches – es hatten sich alle Landesföderation gegen Marx gestellt und seine »IAA« isoliert – stellte sich die IAA zunehmend hierarchiefeindlich auf. In der Folge erlebte sie eine organisatorische Desintegration und ging wie auch Marxens Rumpf-IAA den Bach runter. Vgl. Guillaume, Bd. 3 u. 4; sowie G.M. Stekloff, History of the First International (London: Martin Lawrence Limited, 1927), Teil 2.

Zwar setzte der Anarchismus der marxistischen Heilserwartung aktive Keimformpraxen entgegen. Doch ähnlich dem Marxismus, der eine Sprengung der »kapitalistischen Hülle« erwartete, 29 Erfolgen sollte diese in erster Linie durch die »Centralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit«; siehe Karl Marx, »Das Kapital. Erster Band«, in: Karl Marx & Friedrich Engels, MEW, Bd. 23 (Ost-Berlin: Dietz, 1962), S. 11–802, hier: S. 791. stellte man sich die alte Welt als abzustoßende Schale vor. In der vulgärsten Auslegung entstand daraus eine Institutionenfeindlichkeit, die in allen vertikalen Elementen der Organisierung gleich die Reproduktion von Herrschaft sah. 30 Siehe dazu generell Lucien van der Walt & Michael Schmidt, Schwarze Flamme. Revolutionöre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus (Hamburg: Nautilus, 2014), 164–171 u. Kap. 8. Diesem Teil des Anarchismus blieben fast nur militante Aktionen, um einen spontanen Aufstand zu provozieren. Praktisch hatte dieser Insurrektionalismus Insurrektionalismus
Eine Strömung, die Tohuwabohu mit Aufstand verwechselte
den Massen nichts zu bieten; er verlor sich denn auch in individueller Gewalt. 31 Zum atomisierten Charakter jener anarchist. Gewaltwelle siehe Holger Marcks, »Who’s the Criminal? Anarchist Assassinations and the Normative Conflict about Legitimate Violence«, in: Karl Härter, Tina Hannappel & Jean Conrad Tyrichter (Hg.), The Transnationalisation of Criminal Law in the Nineteenth and Twentieth Century. Political Crime, Police Cooperation, Security Regimes and Normative Orders (Frankfurt a.M.: Klostermann, 2019), S. 99–132.  Der Massenanarchismus fand daher vor allem im Syndikalismus Ausdruck, der mit seinen Gewerkschaften und halbwegs straffen Strukturen große Teile der Arbeiterschaft mobilisieren konnte. 32 Ironischerweise kamen damit die größten anarchist. Gewaltereignisse über den Pfad des Massenanarchismus zustande. Denn der gilt zwar als moderater als der aufständ. Anarchismus, seine Mobilisierung hin zu einer revolut. Situation führten aber zu Instabilitäten und/oder Aufständen, in denen es zu viel Blutvergießen kam. Siehe Holger Marcks, »Pfade in die Gewalt. Individuelle und kollektive Militanz im strategischen Denken des Anarchismus«, in: Phase 2, Nr. 50, Jg. 15 (2015). Zur grundsätzlichen Unterscheidung von Massenanarchismus und aufständ. Anarchismus siehe van der Walt & Schmidt, Kap. 4. Jedoch hatte auch er das republikanische Erbe der frühen Arbeiterbewegung wenn nicht vergessen, so aber doch schlecht gewendet. Denn auch er war der produktivistischen Verengung verfallen: Die republikanischen Prinzipien sollten nämlich nur im Wirtschaftlichen gelten; der bürgerliche Staat sei hingegen aufzuheben. Aller Aufbauarbeit zum Trotz, der Übergang zu einer neuen Gesellschaft blieb so nur als radikaler Ordnungsbruch denkbar: als Revolution. 33 Diese Ambivalenz zeigt sich in der heiligen Kuh des Syndikalismus: dem revolut. Generalstreik. Er beansprucht, ein Übergleiten in die neue Ordnung zu sein – und kommt doch nicht ohne die Sequenz des Ordnungsbruch aus. Exemplarisch spiegelt sich das in der von Pouget mitverfassten Fiktion »Wie wir die Revolution machten« – so der franz. Titel des Romans – wider. Obwohl eine idealtypische Revolution aus syndikalist. Sicht schildernd, kommt da dem aufständ. Moment eine zentrale Rolle zu. »Das letzte Gefecht« – so der vielsagende Titel der deutschen, von Rocker angefertigten Übersetzung – war etwas, ohne das auch das syndikalist. Transformationsdenken nicht auskam. Siehe Émile Pataud & Émile Pouget, Das letzte Gefecht (Berlin: Gilde freiheitl. Bücherfreunde, 1930 [1909]); franz. Original: Comment nous ferons la revolution (Paris: Illustrée, 1909). Und da zogen die Massenanarchisten stets den Kürzeren gegen Kräfte, die autoritärer organisiert waren – ob nun der Staat oder die politische Konkurrenz. 34 Mehrfach kam es zu soz. Kämpfen oder gar revolut. Situationen mit (z.T.) anarchist. Prägung, in denen sich die mobilisierten Massen der gewaltsamen Konfrontation mit der polit. Reaktion stellen mussten: die Kommune von Lyon 1870, die Pariser Kommune 1871, die Mai-Tage in Chicago 1881, der Landarbeiteraufstand von Jerez 1892, die Aufstände in Sizilien 1893–94, die Semana Roja in Buenos Aires 1909, die Semana Tràgica in Katalonien 1909, die Rebellion in Baja California 1911, die Semana Trágica in Buenos Aires 1919, die Kommune von Seattle 1919, die Ruhraufstände 1919/1920, die Biennio Rosso in Italien 1919–20, der Landarbeiteraufstand in Patagonien 1920–21, der Aufstand von Kronstadt 1921, der Aufstand in Asturien 1934 und – nicht zu vergessen – die Ukrain. Revolution 1917–21 wie auch die Span. Revolution 1936–39. In allen Fällen endeten die Kämpfe in Niederlagen oder gar Massakern.