Die Wiederentdeckung der Sphären
Eine neue Gewaltenteilung
            Die Monokultur des herkömmlichen Parlamentarismus, sie steht in
            einem Missverhältnis zur gesellschaftlichen Realität. Denn die
            ist in der Moderne – so eine soziologische Binse – eine
            zunehmend komplexe, die sich in soziale Teilsysteme
            ausdifferenziert.
        1
      Die Sphäre des Rechts hat
            es dabei sogar so weit gebracht, als autonome Ordnung neben der
            Politik anerkannt zu werden.
        2
      Aber auch
            Arbeit, Wohnen, Verbrauch und Vorsorge stellen vielschichtige
            Bedürfnis- und Abhängigkeitswelten dar, die für das Leben und
            Zusammenleben grundlegend sind.
        3
      Und doch
            können die Bürger nur sehr indirekt auf ihre Ausgestaltung
            Einfluss nehmen: nämlich über ihre politische Repräsentation im
            Parlament. Also theoretisch. Praktisch folgen diese sozialen
            Funktionsbereiche einer Eigendynamik, die sich mit den groben
            Mitteln der allgemeinen Politik nicht beherrschen lässt. Zumal
            sie sich seit der
            
                neoliberalen Privatisierung
               Neoliberalismus 
 Die Politik, die mit den bürgerlichen Freiheiten spielt
            noch mehr dem Zugriff der Volksvertretung entziehen.
        4
     
            Vielmehr herrscht in diesen Sphären, die den Charakter unseres
            Gemeinwesens prägen, der Wind einer feudalen Ordnung. Sie werden
            zugerichtet durch Konzentrationen der Macht, auf deren
            Bereitstellungen wir angewiesen sind, ohne unsere Interessen
            wirklich geltend machen zu können. Die Souveränitätsrechte, die
            den Bürgern in der politischen Sphäre zukommen, gelten nicht in
            den sozialen Sphären. In unserer Rolle als Arbeiter, Mieter,
            Verbraucher oder Vorsorger fungieren wir vor allem als
            Untertanen.
        5
     
»Wie wir arbeiten, wie wir wohnen, was wir verbrauchen und wie wir vorsorgen, das sind keine Nebensächlichkeiten im Leben. Es sind systemische Elemente, deren Arrangement über das Schicksal der Gesellschaft entscheidet.«
            Wenn die Demokratie ihren Kinderschuhen entwachsen will, müsste
            sie also lernen, auch ihre repräsentativen Strukturen nach
            funktionalen Gesichtspunkten zu gliedern. Zwar stellt sie bisher
            einen rechtsstaatlichen Rahmen bereit, um der größten Willkür
            mit individuellen und zum Teil auch kollektiven Rechten zu
            begegnen.
        6
      Doch das aufklärerische Ideal, in
            dem Gesetzgeber und Gesetzesadressat identisch sind, wie
            
                Ingeborg Maus
               Ingeborg Maus 
 Jemand, der keine Strandlektüre schrieb
            zusammenfasst, wäre heute überhaupt nur erfüllbar, wenn es in
            den sozialen Sphären komplementäre Demokratien gäbe.
        7
     
            Denn nur so ließe sich in einer funktional differenzierten
            Gesellschaft sicherstellen, dass sich das gemeinschaftliche
            Interesse in den Regeln abbildet, die das Leben insgesamt
            anleiten. Wie wir arbeiten, wie wir wohnen, was wir verbrauchen
            und wie wir vorsorgen, das sind keine Nebensächlichkeiten im
            Leben. Es sind systemische Elemente, deren Arrangement über das
            Schicksal der Gesellschaft entscheidet. Und doch werden hier die
            Spielregeln nicht durch den Mehrheitswillen geprägt, sondern
            durch trübe Partikularinteressen. Die Folge davon ist eine
            Ohnmacht, ja eine Entfremdung, die Gesellschaft als Spielball
            von Sachzwängen erscheinen lässt.
        8
      Dass wir
            selbst oder auch nur unsere politischen Repräsentanten einen
            Zugriff auf die sozialen Umstände haben, die unserem Leben,
            unserer Zukunft den Stempel aufdrücken, spüren nur wenige. Das
            macht uns zu Flugsand, der hilflos von der Geschichte
            davongetragen wird.
        9
     
 
  
 
            Dabei leben wir in Zeiten, wo der liberale Staat ohnehin schon
            an die Eigenverantwortung einer diffusen Masse appellieren muss,
            um das angeblich Schlimmste abzuwenden.
        10
      Da
            wäre es nur folgerichtig, jene Verantwortung auch zu
            institutionalisieren, wenn kein aufgescheuchter Hühnerhaufen die
            Folge sein soll. Seiner kollektiven Verantwortung kann ein
            sozialer Organismus eben nur gerecht werden, wenn er
            Repräsentationen hat, über die er sich artikulieren,
            verständigen, koordinieren und letztlich steuern kann.
        11
     
            Ob dies gleich ganze Sozialparlamente sein können, die das
            allgemeinpolitische Parlament zu einer Art Mehrkammersystem
            erweitern, wird sich noch klären. Hier ist zunächst einmal zu
            erwägen, inwiefern eine Erweiterung der politischen Bürgerschaft
            um soziale Bürgerschaften Schwung in die Demokratie bringen
            könnte.
        12
      Denn der unizentrische
            Parlamentarismus kennt zwar
            
                föderale Untergliederungen,
               Föderalismus 
 Ein Organisationsprinzip, das aus seinem Schatten treten muss
            die politische Variabilität ermöglichen sollen. In seiner
            marktförmigen Einbettung bringt er insgesamt aber eine
            Wissensordnung hervor, die politische Monotonie
            befördert.
        13
      Zum einen ist diese durch die
            uniformierenden Karrierewege der politischen Klasse bedingt, die
            wie bei Profifußballern häufig in Bahnen verlaufen, die wenig
            Bezug zu den sozialen Wirklichkeiten der Masse zulässt.
        14
     
            Zum anderen folgt sie der sozialen Zusammensetzung jener Klasse,
            die natürlich die Perspektive einer eher privilegierten
            Bevölkerung repräsentiert.
        15
     
»Dem herkömmlichen Parlamentarismus fehlt es an einer spezialisierenden Funktionsteilung, die der Komplexität der sozialen Probleme entspricht. Auch deswegen wird das Soziale nicht von der Politik gestaltet, sondern vielmehr in seiner Feudalhaftigkeit verwaltet.«
            Die Stromlinienförmigkeit der Politik, in die sich vor allem
            karrierebewusste Typen gut einfügen, fällt zusammen mit der
            schon erwähnten Grobheit einer bloß politischen Demokratie. Die
            Tendenz zur sozialen Sehschwäche trifft hier auf einen
            schwerfälligen Entscheidungsapparat, der zu einer wirklichen
            Sozialpolitik kaum in der Lage ist. Im Grunde absorbiert die
            Politik mit der Vermittlung zwischen den pluralen Weltsichten
            bereits seine Leistungsfähigkeit.
        16
      Denn für
            die Vermittlung zwischen den sozialen Widersprüchen – oder gar
            ihre Aufhebung – fehlt es dem herkömmlichen Parlamentarismus an
            einer spezialisierenden Funktionsteilung, die der Komplexität
            der sozialen Probleme entspricht. Auch deswegen wird das Soziale
            nicht von der Politik gestaltet, sondern vielmehr in seiner
            Feudalhaftigkeit verwaltet. Zum anderen ist dies freilich auch
            der Fall, weil der politische Liberalismus – zurecht – davor
            zurückschreckt, den Staat aktiv in die sozialen Sphären
            eingreifen zu lassen, um eine polit-ökonomische Gewaltenballung
            wie in kommunistischen Staaten auszuschließen.
        17
     
            Wo aber die Sphären eine soziale Selbstverwaltung entwickeln,
            wäre gar das Gegenteil der Fall: Es wäre eine neue
            
                Gewaltenteilung
               Gewaltenteilung 
 Das Funktionsprinzip, das ein Gemeinwesen geschmeidig macht
            geschaffen, bei der die politische Repräsentation nicht einfach
            nur Macht oder Verantwortung an soziale Repräsentationen abgäbe.
            Es ließen sich dann auch endlich die sozialen Sphären durch
            funktional spezialisierte Organe der Gemeinschaft
            ausgestalten.
        18
     
 
  
 
            Die Idee eines solch feingliedrigen Repräsentationssystems mag
            ungewohnt sein. Sie fordert unser grobschlächtiges
            Demokratieverständnis heraus. Und doch hat sie eine lange
            Vorgeschichte, angefangen im 19. Jahrhundert, als
            republikanische und sozialistische Gedanken noch nah beieinander
            waren. In beiden Denkströmungen formierte sich damals Kritik an
            einer nur allgemeinpolitisch gedachten Demokratie; und in beiden
            Strömungen wurde eine Art Gewerkschaftssozialismus vorgedacht,
            der letztlich in der
            
                Ersten Internationale
               Erste Internationale 
 Ein Begriff, der eine Positionierung verlangt
            Form annahm.
        19
      Auf deren Kongress 1869 in
            Basel exponierte sich eine Fraktion, die den
            »Zentralisations-Staat« durch multiple »Repräsentationen der
            Arbeit« ersetzt sehen wollte, so dass verschiedene
            Wirtschaftsbereiche »für sich eine Art Staat bilden«.
        20
     
            Ein solch »industrieller Staat« , wie
            
                August Willich
               August Willich 
 Jemand, der die Republik in andere Sphären tragen wollte
            jene Ordnungsform zuvor schon bezeichnet hatte,
        21
     
            sollte vor allem auf den Gewerkschaften aufbauen.
        22
     
            Sie rief man damit zur Keimzelle einer neuen Ordnung aus. In der
            Internationale wurde diese Position von den Föderalisten
            vertreten, aus denen letztlich der Anarchismus hervorging. Von
            Marx & Co. besonders harsch bekämpft,
        23
     
            wurden deren Ideen später von der revolutionären
            Gewerkschaftsbewegung, also dem Syndikalismus,
            aufgegriffen.
        24
      Insofern dieser für den
            Versuch stand, das politische Handeln in das Soziale bzw.
            Ökonomische zu verlagern, war hier der Gedanke einer sphärischen
            Differenzierung zumindest angelegt.
        
            Wie große Teile der Arbeiterbewegung krankte der Syndikalismus
            aber an der Vorstellung, die Neuordnung der wirtschaftlichen
            Sphäre würde einen allgemeinpolitischen Überbau überflüssig
            machen. Er blendete damit aus, wie es die Gegenkritik innerhalb
            der Internationale – auch hier zurecht – formulierte, dass
            Menschen doch nicht nur ihrem Beruf verbunden seien. Sie seien
            eben auch Bürger, die noch viele andere Belange der Gemeinschaft
            zu klären haben.
        25
      Positionen wie die des
            Frühanarchisten
            
                César De Paepe,
               César De Paepe 
 Jemand, der den Staat anarchistisch wenden wollte
            dass der bürgerliche Staat nicht abzuschaffen, sondern zu
            transformieren sei,
        26
      kamen dagegen lange
            nicht an.
        27
      Aufgelöst wurde diese
            produktivistische Verengung vom sogenannten Gildensozialismus,
            dessen reichhaltige Überlegungen kaum bekannt sind.
        28
     
            Hier sprach man in der Tat von einer »funktionalen Demokratie«,
            in der nicht nur die Wirtschaft, sondern auch andere
            Funktionsbereiche des Gemeinwesens einer sozialen
            Selbstverwaltung unterstellt würden.
        29
     
            Wenngleich auch die Gildensozialisten uneinig darin waren, bis
            zu welchem Grad ein solch multizentrisches Repräsentationssystem
            eine politische Zentrale entbehrlich mache,
        30
     
            so war für ihre Demokratietheorie doch ein Gedanke
            charakteristisch: Da jeder Bürger eine Vielzahl von sozialen
            Willen verkörpere, könne echte Repräsentation nicht allgemein,
            sondern nur in spezifischen Funktionsbereichen
            erfolgen.
        31
      In Sphären eben.