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VII.

Das Elend der Identitätspolitik

Kulturelle Barrieren der Demokratisierung
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Wir finden in den unteren Klassen also den sozialen Träger einer Konstitutionalisierung des Sozialen – und in multiplen Gewerkschaften und Genossenschaften eine adäquate Organisationsform. Wer aber wäre der politische Schrittmacher solcher Prozesse? Insofern es hier um eine Perspektive geht, die in der sozialistischen Tradition steht, richtet sich zwar der Blick automatisch auf die Linke. Doch kann von diesem Konglomerat, so weit man es auch fassen möchte, nicht gerade behauptet werden, dass sein Verhältnis zu den unteren Klassen intakt sei. 1 Die Gründe für diese Beziehungskrise mögen vielfältig sein, 2 sie ist aber unzweifelhaft Ausdruck einer epistemischen Krise Epistemische Krise
Ein Zustand, in dem Akteure ihre politische Krise nur schlimmer machen
der Linken selbst. 3 Denn offenbar ist in der Wissensordnung, die den linken Diskurs anleitet, ein bestimmter Blickwinkel dominant geworden, der die Effekte des eigenen (diskursiven) Handelns nicht mehr zu reflektieren vermag. 4 Einem Gros der Linken gilt nämlich die Durchsetzung progressiv gemeinter Konzepte im öffentlichen Diskurs als Synonym für Fortschritt. Dass auch die besten Absichten unbeabsichtigte Effekte zeitigen können, die regressive Entwicklungen begünstigen, ja dass sie sogar selbst ins Reaktionäre kippen können, scheint in diesem Denken kaum mehr vorzukommen. 5 Es ist eine gesinnungsethische Denkweise, die effektiv ausblendet, wie die eigenen Praktiken nicht nur polarisieren, 6 sondern sich sogar selbst zu Herrschaftstechniken eines privilegierten Milieus entwickeln. 7

Dabei sollte die Linke von ihrer eigenen Geschichte gewarnt sein. Da gab es Arbeiterorganisationen, von Arbeitern, für Arbeiter. Auch sie reklamierten Fortschritt und Gerechtigkeit für sich: Menschen sollten nicht mehr ausgebeutet, ein sozial gerechtes System geschaffen werden. Was konnte da schon schief gehen? Am Ende: alles. Nicht selten endeten diese Bemühungen in Reaktion und Bürgerkrieg oder brachten autoritäre Regime hervor, in denen es sich schlechter lebte als in liberalen Ordnungen. 8 Dabei stützten sich jene Regime auf Rechtfertigungsmuster, die sich in einer Phase etabliert hatten, als die Arbeiterbewegung relativ harmlos wirkte. 9 Vor allem marxistische Kräfte praktizierten schon früh eine Gleichsetzung ihrer Lesart des Sozialismus mit den Interessen der Arbeiter, inklusive einer eigenen Sprache, an der man Freund und Feind unterschied. 10 Andere Sozialismen hatten es in diesem enggeführten Diskurs zunehmend schwer, wurden sie doch als bürgerlich, also reaktionär abgewertet. 11 Ähnliches wiederholte sich, als die Neue Linke den Antikolonialismus Antikolonialismus
Eine Bewegung, die nach Solidarität mit Despoten verlangt
auf den nationalen Befreiungskampf engführte und Linke als kolonialistisch diffamierte, die den nationalistischen und autoritären Formen des Antikolonialismus kritisch gegenüberstanden. 12 Sie machte sich so zum Handlanger von nationalen Befreiungsbewegungen, die häufig despotische Ordnungen errichteten – 13 und nicht selten gegen wirklich fortschrittliche Landsleute vorgingen. 14

»Anders als es der linke Reflex unterstellt, gilt das Unbehagen mit der linken Identitätspolitik häufig ja nicht Feminismus und Antirassismus an sich. Vielmehr rumort es wegen einer politischen Kultur, die Wahrheiten immer mehr an Identitäten statt an Argumenten festmacht.«

Wenn also Linke wieder mal Fortschritt und Gerechtigkeit gepachtet haben wollen, wenn sie eine historische Folgerichtigkeit ihrer Konzepte behaupten und eine technokratische Sprache zum Gesinnungstest machen, dann ist Vorsicht geboten. 15 Wenn sie dann auch noch ihre Lesart von etwa Feminismus oder Antirassismus – also die identitätspolitische Lesart Identitätspolitik
Ein Begriff, der von der Linken zur Karikatur gemacht wurde
– mit den Interessen von Frauen und Migranten gleichsetzen, wenn sie Kritiken an Identitätspolitik nur noch als frauenfeindlich oder rassistisch lesen können, dann sollten die Alarmglocken läuten. 16 Und sie sollten es umso mehr, als der epistemische Modus, für den Identitätspolitik eigentlich steht, immer dominanter wird im linken Diskurs. 17 Denn es ist eine alternative Epistemologie, die anti-aufklärerisch wirkt. Anders als es der linke Reflex unterstellt, gilt das Unbehagen mit der linken Identitätspolitik häufig ja nicht Feminismus und Antirassismus an sich. 18 Vielmehr rumort es wegen einer politischen Kultur, die Wahrheiten immer mehr an Identitäten statt an Argumenten festmacht. 19 Die Linke bewegt sich so in den Bereich eines Irrationalismus, der mit den Prinzipien der Aufklärung über Kreuz liegt. Wahrheit mag zwar subjektiv anders empfunden werden, die Methoden ihrer Findung sollten aber universellen Kriterien folgen. 20 Denn wo man »die Person des Denkers und nicht seine Gedanken in Betracht zieht«, wie Karl Popper, Karl Popper
Jemand, der den Quargel vom intellektuellen Standort entlarvte
ein weißer Mann, sagt, wird Wahrheit eben eine Frage des Affekts – und damit selbst relativ. 21

Tatsächlich zeichnet sich der linke Diskurs zunehmend durch ad-hominem-Argumente aus. Denn Positionen, die sich einer »falschen« Identität zuordnen lassen oder diese auch nur vermeintlich reproduzieren, disqualifizieren sich hier schnell. 22 Wo einst das Verdikt des Bürgerlichen genügte, um eine Diskussion und damit auch Reflexion zu vermeiden, haben Linke von heute gleich mehrere Konstrukte zur Hand, um Kritiken als falschen Standpunkt abzuwehren – angefangen bei Männlichkeit oder Weißsein. 23 Die Folge dieser neuen Rechtfertigungsfaulheit ist ein Diskurs ohne argumentative Konsistenz. 24 So werden Männer ausdrücklich ermuntert, sich die Identität von Frauen und ihre Räume anzueignen 25 (auch gegen feministische Kritik), 26 Kritischer Feminismus
Eine Haltung, gegen die FARTs zur Hexenjagd blasen
während die Aneignung ethnischer Identitäten als Skandal gilt, wie der Fall Rachel Dolezal Rachel Dolezal
Jemand, der den Hass transfeindlicher Linker zu spüren bekommt
zeigt. 27 Fragwürdig ist das nicht nur, weil hier oberflächliche Erscheinungsmerkmale wie die Hautfarbe zu einer natürlichen Barriere zwischen den Menschen hochgejazzt werden, 28 während durchaus natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern geleugnet werden. 29 Man muss sich indessen auch fragen, ob die Linke hier nicht selbst eine Art Co-Rassismus etabliert. Das Konzept der kulturellen Aneignung etwa verhält sich semantisch völlig synchron zum Ethnopluralismus der extremen Rechten: Die einen wollen ihre imaginierte Gemeinschaft nicht verunreinigt sehen, die anderen wollen aus anderen Gemeinschaften nichts entnommen sehen. 30

»Die Linke treibt eine Vergeschlechtlichung der Sprache ohne Rücksicht auf entstehende Pfadabhängigkeiten voran. Dass sie damit eine wirklich geschlechtsneutrale Sprache präfigurativ verhindert, prallt an ihr ebenso ab wie die Tatsache, dass sie damit die meisten Menschen auf Distanz zu sich bringt.«

Ob dieser Verdrehungen und Widersprüchlichkeiten sollte es nicht verwundern, dass die Linke vielen als Quelle des Bullshits gilt und – ja – als spaltende Kraft. 31 Ihre Identitätspolitik mag zwar nominell gegen sexistische und rassistische Spaltungen gerichtet sein. Ihr eigentlich sinnstiftendes Moment ist aber die ständige Abgrenzung und Emotionalisierung von diskursiven Konzepten, die ihr als Ausdruck eines falschen Bewusstseins gelten. 32 Auf einer metapolitischen Ebene spaltet man so die Gesellschaft »in diejenigen, die die unübersetzbare Sprache unserer eigenen Gefühle und Leidenschaften sprechen, und die übrigen, deren Sprache nicht die unsere ist.« 33 Es ist diese Babylonisierung, mit der sich die Linke den Weg in die Zukunft verstellt. 34 Und nichts ist für diese Sackgasse symptomatischer als die linke Sprachpolitik, 35 die sich zunehmend zu einem Spaltpilz entwickelt. 36 Besessen vom Mythos des generischen Maskulinums, 37 Generisches Maskulinum
Ein Begriff, der sexistische Realitäten schafft
treibt die Linke eine Vergeschlechtlichung der Sprache ohne Rücksicht auf entstehende Pfadabhängigkeiten voran. 38 Dass sie damit eine wirklich geschlechtsneutrale Sprache präfigurativ verhindert, 39 prallt an ihr ebenso ab wie die Tatsache, dass sie damit die meisten Menschen auf Distanz zu sich bringt. 40 Hier und da mag sie zwar anerkennen, dass es für ihre Sprachpolitik keine Mehrheiten gibt. Im Glauben, auf der Seite des Fortschritts zu sein, hält sie es dennoch für opportun, den Prozess voranzutreiben. 41 Das rechte Gegrunze vom Kulturmarxismus, es findet hier reales Futter. 42

Dieser Tragweite ist sich die Linke nicht bewusst. Entgegen der Mär, ihre Sprachpolitik sei etwa von Frauen gewünscht, trifft sie selbst bei ihnen auf wenig Gegenliebe. 43 Trunken von ihrem Siegeszug in den Unis und Redaktionen, übersehen viele Linke, dass ihre Akzeptanz weniger eine Frage des Geschlechts ist als von sozialen und politischen Hintergründen. 44 Vor allem ist es nämlich ein Konflikt zwischen spezifischen bildungsbürgerlichen Milieus und den einfachen Menschen. 45 Und das bedeutet: Die Linke übergeht hier die Massen – auch die subalternen. 46 Dieser Umstand bestätigt den Eindruck einer epistemisch kriselnden Linken, die ihre Widersprüche nicht zu reflektieren vermag. Denn würde sie die Standpunkttheorie konsistent, nicht willkürlich anwenden, müsste sie sich selbst canceln. 47 Da sie aber stark bildungsbürgerlich zusammengesetzt ist, weist natürlich auch ihre Perspektive blinde Flecken auf. Im Endeffekt reflektiert ihre identitätspolitische Lesart von Feminismus und Antirassismus, ja von Intersektionalität Intersektionalität
Ein Konzept, das auf ein kleingeistiges Kastensystem hinausläuft
schlechthin, gar ihren privilegierten Standpunkt. 48 Die linke Identitätspolitik, sie hat eine klassistische Funktion; die Sprachpolitik dient dabei als soziolinguistischer Marker. 49 Will die Linke also amerikanische Zustände verhindern, 50 müsste sie auch im Kulturellen die Barrieren abtragen, die ihr den Anschluss bei den unteren Klassen verbauen: Es wäre mit der politischen Kultur der Identitätspolitik zu brechen. 51 Denn sozialer Wandel geht nur mit den Massen, nicht gegen sie.